© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Leiden wie die Griechen, aber ohne daß jemand zuhört
Ukraine: Steuern und andere Belastungen nehmen zu, aber das Vertrauen schwindet / Die Ukraine am sozioökonomischen Abgrund
Ronald Gläser

Moshe Satanowsky runzelt die Stirn. Der ukrainische Unternehmer inspiziert seinen Stand auf der Grünen Woche, wo seine Mitarbeiter Wodka und belegte Brötchen verkaufen. Aber er kann immer noch nicht fassen, was er eben gehört hat: Außer seinem gibt es nur einen weiteren ukrainischen Stand auf der Messe in Berlin – und auch das ist eine private Firma. Der Grund: Die neue ukrainische Regierung hat es nicht geschafft sich rechtzeitig anzumelden.

Satanowskys Unternehmen ist neben dem Vertrieb von Lebensmitteln in der IT-Branche und im Gastronomiebedarf tätig. Der Auftritt auf der Grünen Woche ist für ihn ein Nebengeschäft. Um so merkwürdiger ist, daß ihm gelungen ist, woran ukrainische Regierungsbeamte gescheitert sind. Und doch ist der Vorgang symptomatisch für das Land, das immer stärker in den Krieg mit Rußland hineingezogen wird und einer unsicheren Zukunft entgegensieht. Wer dieser Tage mit ukrainischen Regierungsbeamten zu tun hat, erlebt Verunsicherung. Die Bemühungen der neuen Regierung, gegen Korruption vorzugehen, führen dazu, daß sich viele nicht mehr trauen, irgend etwas zu tun, um ja nichts falsch zu machen.

Der neue Ministerpräsident Arseni Jazenjuk war im Januar in Berlin, wo er sein Regierungsprogramm vorgestellt und einen 500-Millionen-Euro-Kredit abgeholt hat. Besonderen Wert legt Jazenjuk auf die Korruptionsbekämpfung. Sein Regierungsprogramm liest sich wie eine Abrechnung mit dem Janukowitsch-Regime und enthält Punkte wie „Überwachung der Lebensverhältnisse von Beamten“ oder „elektronische Offenlegung der Einnahmen und Ausgaben von Beamten“. Diese Maßnahmen sollen noch 2015 umgesetzt werden. Ebenso die Einrichtung zweier neuer Behörden: des „Büros für Korruptionsverhinderung“ und eines „Antikorruptionsbüros“.

Die Ukraine ist dem Bankrott nahe

Der Wille, das Land aus seiner postsowjetischen Tristesse in die EU und die Nato zu führen, ist da. Auf dem Papier zumindest. Politisch steuert Kiew einen radikalen Sparkurs. Dem Land bleibt auch nichts anderes übrig: Es steht vor dem Bankrott und befindet sich obendrein in einem unerklärten Krieg mit Rußland, den es nicht gewinnen kann. Die Einschnitte für das ukrainische Volk sind hart und treffen alle Einkommensschichten. Sie stehen den Austeritätsmaßnahmen Griechenlands in nichts nach. Hier einige Beispiele:

l Der Strompreis ist von 24 Kopeken auf 1,59 Griwna pro Kilowattstunde gestiegen, eine Steigerung von mehr als 500 Prozent. Versorgungsengpässe machen es dennoch notwendig, in manchen Stadtteilen Kiews für mehrere Stunden tagsüber den Strom einfach abzustellen.

l Zudem wurden die Preise für öffentliche Verkehrsmittel erhöht. In Kiew kostet eine U-Bahnfahrt jetzt vier statt zwei Griwna (vierzehn Cent).

l Viele Vergünstigungen für Rentner und andere privilegierte Gruppen wie kostenfreier Transport mit Bus und Bahn wurden gestrichen.

l Renten sind zudem zu versteuern. Wer gleichzeitig über ein Arbeitseinkommen verfügt, ist nicht mehr rentenanspruchsberechtigt. Die Mindestrente in der Ukraine liegt bei 949 Griwna (umgerechnet 33 Euro)

Diverse neue Steuern belasten Sparer, Immobilienbesitzer und Konsumenten:

l Die Kriegssteuer ist eine zweite Einkommensteuer in Höhe von zwei Prozent. Sie wird auf die normale Einkommensteuer draufgeschlagen, ist also die ukrainische Variante des Solidaritätsbeitrages.

l Daneben gibt es die Armeesteuer, die ebenfalls neu eingeführt worden ist: Sie beträgt 1,5 Prozent und wird als zweite Umsatzsteuer auf ausgesuchte Produkte des täglichen Bedarfs erhoben. Sie wird durch den Handel eingetrieben.

l Erstmals werden auch Zinsen und Vermögen besteuert. Besonders ärgerlich für viele Immobilienbesitzer ist die neue Grundsteuer. Pro Quadratmeter Fläche fallen zwei Griwna an, die der Eigentümer zu entrichten hat. Eine Familie mit einer 50-Quadratmeter-Eigentumswohnung zahlt 100 Griwna (3,50 Euro) extra.

l Die Devisensteuer, eine Umsatzsteuer auf Geldgeschäfte, vergleichbar der vielfach diskutierten Transaktionssteuer wurde vervierfacht.

Die letztgenannte Maßnahme ist nur einer von zahlreichen Punkten, der die Abkoppelung der Ukraine vom internationalen Finanzmarkt beschleunigt. Im September vorigen Jahres hatte die Nationalbank überraschend die Auszahlung von Fremdwährungen verboten. Privater Geldwechsel ist untersagt.

Ukrainer bunkern schon lange einen Teil ihres Geldes in Devisen. Es war bislang normal, in der Ukraine ein Dollarkonto zu führen. Die meisten größeren Geschäfte werden in Dollar abgewickelt. Daher betraf diese Entscheidung viele Bankkunden. Sie durften erst nach Wochen ihr Geld abholen – und zwar nur geringe Beträge.

Grund war der Wertverlust der Griwna, den es zu stoppen galt. Sie hat seit 2008 zwei Drittel ihres Wertes in Euro eingebüßt. Durch den sinkenden Außenwert werden Importprodukte immer teurer: Der Benzinpreis hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Die Inflationsrate liegt bei geschätzten 25 Prozent.

Vor diesem Hintergrund sind die positiven Wachstumszahlen Makulatur. Die Wirtschaft ist seit 2008 in Griwna gerechnet rasant gewachsen – in US-Dollar hingegen geschrumpft. Einzig die Agrarindustrie verzeichnet reale Zuwächse. Darauf ist die Ukraine um so mehr angewiesen, wenn sie die Schwerindustrie im Osten dauerhaft verliert.

Überraschend ist, wie gelassen die Ukrainer auf die Belastungen regieren. Es gibt weder Demonstrationen noch Streiks wie in Griechenland oder anderen EU-Staaten, die sparen müssen. Auch Unternehmer Satanowsky hat gedämpfte Erwartungen. Ein funktionierender Rechtsstaat würde ihm fürs erste reichen. Sein Stand auf der Grünen Woche habe sich nicht gerechnet. „Das war eine patriotische Tat, geschäftlich hat es sich nicht gelohnt“, bilanziert er nüchtern. Die Dinge entwickelten sich schlecht, was auch, aber nicht nur mit dem Krieg zu tun habe. „Ich sehe noch keine Kurve“, lautet sein Fazit.

Informationen über die wirtschaftliche Lage vom Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft

www.ost-ausschuss.de

Foto: Moderne Einkaufsmeile in Kiew und Obsthändlerin: Ein Land zwischen westlichem Luxus und postsozialistischer Armut, geprägt von einer wetteranfälligen Agrarwirtschaft

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