© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

„Probleme unter den Teppich gekehrt“
Warum hassen wir Pegida? Der Publizist und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz sieht die seit Montag wieder anwachsende Bewegung und den Protest dagegen als Ausdruck unbewältigter Konflikte der Deutschen, deren Aufarbeitung versäumt wurde
Moritz Schwarz / Christian Dorn

Herr Dr. Maaz, warum hassen wir Pegida?

Maaz: Ich gehöre nicht zu den Hassern, ich will verstehen. Für mich befindet sich Pegida in einer Außenseiterposition, die wir gruppendynamisch als Omega bezeichnen. Omega verkörpert immer etwas sehr Wichtiges.

Inwiefern?

Maaz: Omega verkörpert immer eine tiefere Wahrheit, die die Mehrheit nicht sehen und wahrhaben will. Diese verborgenen Themen sollten gefunden werden.

Welche Themen Pegida vertritt, kann man doch in deren 19 Punkten nachlesen.

Maaz: Das ist richtig, und diese Punkte sind nach tieferen Problemen zu untersuchen.

Was sollte das im Fall von Pegida sein?

Maaz: Wir müssen immer nach individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Konflikten differenzieren. Vor 25 Jahren war im Gründungsaufruf der damaligen Opposition in der DDR, dem Neuen Forum, unter anderem zu lesen: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft gestört. Beleg dafür ist weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische.“ Das erscheint mir heute wieder aktuell zu sein und betrifft Kritik an der Asyl-, Einwanderungs- und Integrationspolitik, aber auch Kritik an der deutschen Vereinigung und eine Kapitalismuskritik.

Wenn das die eigentlichen Motive Pegidas sind, warum tritt diese dann „gegen die Islamisierung des Abendlandes“ an?

Maaz: Der islamistische Extremismus ist auf der ganzen Welt zu einer großen Bedrohung geworden, und die Integration des Islam in Deutschland ist konfliktreich. So konnte man mit diesem Thema hoffen, überhaupt beachtet und gehört zu werden.

Pegida, Hartz-IV-Proteste, Stuttgart 21, die Montags-Friedensdemonstrationen – wollen alle etwa eigentlich etwas ganz anderes ausdrücken?

Maaz: Ja und nein. Es ist immer auch berechtigte Kritik an realen Problemen, aber häufig auch Ventil für weitere Themen.

Nämlich?

Maaz: Viele Menschen erleiden in ihrer individuellen Entwicklung Verletzungen und Kränkungen, die oft noch durch soziale Konflikte verschärft werden. Meistens handelt es sich um Verletzungen des narzißtischen Selbstwertes. In der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen kann man durch besondere Anstrengungen und Leistungen ein „Größenselbst“ erreichen wollen – das ist besonders im Westen gefördert worden. Oder man ist bemüht, durch Anpassung, manchmal auch durch Selbstabwertung, ein „Größenklein“ zu entwickeln und damit Hilfe und Versorgung zu provozieren – das war vor allem im Osten verbreitet.

Was hat all das bitte mit Pegida zu tun?

Maaz: Für meine Begriffe macht der Pegida-Protest auf Versäumnisse in der Vereinigungspolitik und ungelöste Konflikte der gesellschaftlichen Entwicklung aufmerksam. Der Protest ist im Osten entstanden, weil die Hoffnungen und Erwartungen durch den Beitritt zur Bundesrepublik für viele nicht aufgegangen sind. Während der Zeit der Teilung haben sich in Ost und West unterschiedliche Gesellschaften entwickelt. In der DDR kam halbwegs zurecht, wer die verordnete Kollektivierung mitgemacht hat: ja nicht zu individuell sein, nicht zu kritisch, sondern machen, was alle machen. Mit wenigen Ausnahmen ist keiner Opfer des DDR-Systems geworden, der sich an diese Anpassungssozialisation gehalten hat. Der Westen dagegen förderte das Gegenteil: Um hier zu bestehen, muß man sich anstrengen, viel leisten, stärker tun als man ist, konkurrieren, sich durchsetzen. Menschen, die wie die im Osten zum „Größenklein“ erzogen worden sind, können nicht problemlos in eine Gesellschaft wechseln, die nach dem Prinzip des „Größenselbst“ funktioniert.

Und deshalb ist das offene Frustpotential in Mitteldeutschland höher?

Maaz: Ja, weil im Osten die ungebrochene Kompensationskultur fehlt, mit der die Menschen im Westen ihre narzißtischen Probleme kompensieren. Und dieser Umstand kommt in vermehrten gesellschaftlichen Frustausbrüchen zum Ausdruck. Von den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen über Sozialproteste, bis zu den Erfolgen der Protestparteien von links bis rechts.

Die üblichen Erklärungen lauten allerdings: wenig demokratische Tradition, mehr Arbeitslosigkeit, westliche Bevormundung.

Maaz: Da ist auch etwas dran, aber solche Aussagen sind zu vordergründig und abwertend und verbergen das eigentliche Problem. Nämlich, daß „dem Ossi“ die westliche Lebensweise bis heute fremder ist und er sie gerechterweise kritischer sieht als der gelernte „Wessi“.

Warum gerechterweise?

Maaz: Gerechterweise, weil nicht so betriebsblind. Da den Ostdeutschen Jahrzehnte westlicher Sozialisation fehlen, erkennen sie eher, was an der westlichen Lebensweise nicht „stimmt“, was daran falsch und verlogen ist.

Unterschwelliger Tenor in den meisten Medien ist allerdings: Die „Ossis“ haben Probleme mit der Anpassung, die sie überwinden müssen, um so „normal“ zu werden wie die Deutschen im Westen.

Maaz: Das wäre verheerend! Es ist falsch, die Ostdeutschen als benachteiligt zu betrachten. Denn beide Sozialisationen haben Vor- und Nachteile. Darauf müßte einmal differenziert der Blick gerichtet werden! Und da kommt zum Beispiel die Pegida-Bewegung wieder ins Spiel, die eben auch als Systemkritik verstanden werden kann, wenn zum Beispiel mehr Basisdemokratie eingefordert wird.

Wer also Pegida einfach nur als islamfeindlich abqualifiziert, würgt folglich die eigentliche Aussage ab?

Maaz: Ich kann bei den Pegida-Forderungen keine „Islamfeindlichkeit“ erkennen. Es wird vor einer Islamisierung gewarnt und damit vor einer falschen Politik mit einer zu liberalen Einschätzung der Konflikte in unserer Gesellschaft, die durch unterschiedliche Kulturen und Religionen entstehen. Das wurde auch von den Medien nicht adäquat dargestellt.

Warum nicht?

Maaz: Ich denke, weil es schwerwiegende Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft gibt und die meisten Menschen sich damit lieber nicht wirklich auseinandersetzen wollen.

Gegen Pegida wird etwa mit Besen demonstriert, die für die Reinigung vom „ideologischen Müll“ Pegidas stehen.

Maaz: Das ist natürlich unfreiwillig verräterisch, denn symbolisch steht diese Reaktion vielmehr dafür, daß Probleme unter den Teppich gekehrt werden. Das, was Pegida aufgewirbelt hat, die Widersprüche in der Gesellschaft, sollen einfach weggefegt werden, damit alles wieder bieder und sauber sei. Das gleiche kommt zum Ausdruck, wenn wegen Pegida die Lichter gelöscht werden. Welche Probleme sollen verdunkelt werden und was soll in der Gesellschaft verschwiegen und nicht ans Tageslicht gebracht werden? Paradox ist übrigens auch, beobachten zu müssen, mit welchem Haß mitunter gegen Pegida demonstriert wird, im Namen der „Toleranz“. Wer nicht klären und verstehen will, sondern Pegida beschimpft, abwertet und ausgrenzt, stiftet letztlich selbst zu Gewalt an.

Eine Studie ergab, daß sich an diesem Protest gegen Pegida vor allem grün orientierte Bürger beteiligen.

Maaz: Es ist eigentlich schon erstaunlich, daß sich ausgerechnet Grüne und Linke, also jene, die sonst den Protest und die Kritik an den bestehenden Verhältnissen und am Leistungs- und Konkurrenzsystem unserer Gesellschaft vorantreiben, hier zu Helfern des Establishments gemacht haben. Vielleicht ist die bisherige Opposition tatsächlich inzwischen zu sehr etabliert, so daß der Protest nicht mehr von oppositionellen Parteien, sondern von einer außerparlamentarischen Opposition vorangebracht wird. Weshalb jetzt „weltoffen“, „bunt“, „Toleranz“ gegen Pegida plakatiert wird, ist verwunderlich, da diese Werte von den Pegida-Demonstranten gar nicht in Frage gestellt werden.

Bei der Pegida-Demonstration vom 25. Januar verkündeten die Organisatoren am Ende tatsächlich, sie schlössen sich der Forderung der Gegenseite nach Weltoffenheit an. Applaus beim Publikum.

Maaz: Wenn „Weltoffenheit“ und „Toleranz“ so heftig gefordert werden, dann habe ich den Verdacht, daß demonstriert werden muß, wie friedfertig und zivilisiert wir Deutschen inzwischen wieder sind, nachdem wir zu größten Verbrechen in der Lage waren.

Pegida wird vorgeworfen, sich zu Unrecht den Ruf „Wir sind das Volk!“ angeeignet zu haben. So wie Sie das Phänomen beschreiben, wäre das allerdings nicht richtig.

Maaz: Ja, denn es war tatsächlich eine ähnliche Situation wie 1989, deren Hauptmerkmal gewesen ist, daß die Mächtigen die Situation nicht reflektiert haben. Wobei die Zahl derer, die damals demonstriert haben, natürlich gewaltig größer war! Pegida kann sicher nicht beanspruchen, „das“ Volk zu sein, höchstens „auch das Volk“. Aber der springende Punkt ist, daß unsere Politiker, etwa die Kanzlerin, Heiko Maas oder Cem Özdemir, zunächst in der Tat reagiert haben wie damals die SED: Nur Abwehr und Ressentiment, nur Beleidigungen – für mich war das erschreckend. Kaum einer sagte: Moment mal! Wenn die Bürger protestieren, wollen wir das verstehen. Dann sollten wir zuhören und analysieren, ob und was wir falsch gemacht haben.

Pegida müßte also reflektiert werden. Das aber leisten unsere Intellektuellen nicht, statt dessen haben sich die meisten an der Pegida-Beschimpfung der Etablierten nach Kräften beteiligt.

Maaz: Ja, natürlich sollte reflektiert und verstanden werden. Wir müssen unsere Lebensform kritisch hinterfragen – wie wir mit den wachsenden Konflikten jetzt und in Zukunft leben können, und dabei hätten auch Intellektuelle eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: zu kritisieren, zu analysieren und vor allem Ideen für verbesserte Lebensformen zu entwickeln.

 

Dr. Hans-Joachim Maaz, der Psychiater und Psychoanalytiker ist durch zahlreiche Veröffentlichungen und Auftritte in Fernsehen, Rundfunk und Presse einem breiten Publikum bekannt. Seit seinem Bestseller „Der Gefühlsstau“ (1990) gilt er als „Kenner der deutschen Befindlichkeit“ (ZDF). Maaz, geboren 1943 im böhmischen Niedereinsiedel, war von 1980 bis 2008 Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle und gehört zu den Unterstützern des Interessenverbandes „Familiennetzwerk“, das sich vornehmlich gegen außerfamiliäre Kinderbetreuung engagiert. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen „Das gestürzte Volk. Die verunglückte Einheit“ (1991), „Die Liebesfalle. Spielregeln für eine neue Beziehungskultur“ (2007) und „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012), mit der Maaz ein „Psychogramm der Bundesrepublik“ (Spiegel) gelungen ist.

www.hans-joachim-maaz-stiftung.org

Foto: Pegida-Demonstration am 25. Januar 2015 in Dresden: „Pegida kann zum Beispiel auch als Systemkritik verstanden werden, etwa wenn mehr Basisdemokratie eingefordert wird ... Unsere Politiker aber haben in der Tat reagiert wie damals die SED: Nur Abwehr und Ressentiment, nur Beleidigungen – für mich ist das erschreckend.“

 

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