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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/15 / 13. Februar 2015

Vermittler zwischen Bibel und Geschichtsbuch
Vor 150 Jahren wurde der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch geboren
Karlheinz Weissmann

Ende des ersten Kriegsjahrs, im Juli 1915, veröffentlichte der Berliner Professor für Philosoph Ernst Troeltsch einen Aufsatz unter dem Titel „Der Geist der deutschen Kultur“. Es handelte sich um eine der typischen Programmschriften dieser Zeit, aber auch um mehr als das. Wie viele Gebildete nahm Troeltsch einen Gegensatz zwischen deutscher und westlicher Wesensart an.

Deshalb ging es seiner Meinung nach bei dem jetzt ausdrücklich so genannten „Weltkrieg“ um einen „Kulturkrieg“, der von Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland geführt werde, weil die alten, rationalistischen und plutokratischen Völker des Westens sich durch das „Romantisch-Individualistisch-Irrationale“ des jungen Volkes in der Mitte bedroht fühlten. Vehement verteidigte Troeltsch Monarchie, „Staatssozialismus“ und Organisation gegenüber den „demokratischen Fiktionen“ des Westens wie der despotischen Barbarei des Ostens. Er betonte aber gleichzeitig die Notwendigkeit einer politischen Umgestaltung, die schon eingesetzt habe und nach dem Ende des Krieges Deutschland mit der Freiheit eine „naturgemäße Demokratisierung“ bringen sollte.

Führender Intellektueller des Kaiserreichs vor 1914

Die Argumentation ähnelte in vielem der seines Freundes Max Weber, der mit Troeltsch zu den führenden Köpfen der liberalen Opposition des Kaiserreichs gehörte. Es handelte sich bei beiden um einen ausgesprochen reflektierten und nicht parteigebundenen Liberalismus, eine nachhaltig durch das geistige Erbe der „Deutschen Bewegung“ geprägte Position. Die fand ihren Niederschlag auch in Troeltschs Stellungnahmen als Theologe. Mit seinem 1902 erschienenen Werk „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ hatte er eine der wichtigsten Programmschriften des liberalen Protestantismus veröffentlicht.

Zu diesem Zeitpunkt lehrte Troeltsch als Ordinarius für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg. Das war der vorläufige Höhepunkt einer akademischen Karriere, die der am 17. Februar 1865 in Haunstetten (bei Augsburg) Geborene rasch zurückgelegt hatte. Nach Stationen als Privatdozent in Göttingen und ordentlicher Professor in Bonn wurde er durch das Buch über die Absolutheit des Christentums auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Das hatte seinen Grund vor allem darin, daß Troeltsch einen neuen Akzent in einer seit langem schwelenden und jetzt offen ausgetragenen Debatte setzte, in der es um die Frage ging, welche Folgerungen aus der historischen Bibelexegese und der Einsicht in die Historizität des Christentums überhaupt zu ziehen seien. Gegen die orthodoxe Auffassung, die das eine wie das andere mehr oder weniger konsequent ablehnte, und gegen die Radikalen, die aus der Geschichtlichkeit auf die Obsoletheit der christlichen Überlieferung schlossen, suchte die „Religionsgeschichtliche Schule“, der Troeltsch zuzurechnen war, nach einer vermittelnden Position. Diese erkannte die „Verselbständigung des modernen Denkens“ und mithin das Mündigwerden der Welt ausdrücklich an und hielt doch gleichzeitig an einem – wenngleich nicht objektivierbaren – überzeitlichen Wert des christlichen Glaubens fest.

Das war nur möglich, indem man die Gottessohnschaft Jesu zu einem individuellen Glaubensakt erklärte, während die Größe des Menschentums Jesu als Tatsache behandelt wurde, die Kirche dem Christen zwar als wanderndes Gottesvolk in der Geschichte faßbar sein mochte, dem Wissenschaftler aber nur die Abwägung offenstand, welche Leistung das Christentum für die Menschheit erbracht hatte.

Troeltsch war optimistisch genug, um zu behaupten, daß auch bei kritischer Prüfung die Überlegenheit des Nazareners deutlich genug hervortrete und die Bilanz der Kirchengeschichte positiv ausfalle, da das Christentum als „die stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiosität“ zu betrachten sei. „Höchstgeltung“ könne es zwar nicht in einem absoluten Sinn beanspruchen, aber doch in einem relativen, da seine Überlegenheit im Vergleich zu jeder anderen Religion gezeigt werden könne.

Alle Arbeiten, die Troeltsch in der Folgezeit veröffentlichte, vor allem die große Untersuchung zu den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912), aber auch verschiedene Abhandlungen über das Problem des Historismus, die erst 1922 zusammengefaßt wurden, waren von dieser Grundanschauung geprägt und trafen auf ein allgemeineres Interesse. Am Beginn des Ersten Weltkriegs gehörte Troeltsch damit zu den einflußreichsten Intellektuellen des Kaiserreichs. Daß er trotz gewisser Vorbehalte von dessen Entwicklungsmöglichkeiten ausging, ist unbestreitbar, allerdings hielt sich auch bei ihm der Enthusiasmus nicht, den die „Ideen von 1914“ mit sich gebracht hatten.

Angesichts der zunehmenden Radikalisierung von Völkischen und Alldeutschen trat er 1917 dem „Volksbund für Freiheit und Frieden“ bei, der für einen Ausgleich mit der Entente warb. Damit war Troeltschs weiterer politischer Weg vorgezeichnet, insofern als er sich nach dem militärischen Zusammenbruch und dem Ende der Monarchie zur Mitarbeit an der neuen Ordnung entschloß. Naheliegend war der Eintritt in die Deutsche Demokratische Partei – 1919 die Partei der Intelligenz –, schon weniger die zeitweilige Tätigkeit als Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium.

Aufleben von Troeltschs Kulturprotestantismus

Ein Signal für die vorbehaltlose Anerkennung der Lage darf man aber auch darin nicht sehen. Troeltsch behielt, auch in diesem Fall ähnlich Weber, immer eine gewisse Reserve, was an seinen weiteren Stellungnahmen zur Sonderrolle Deutschlands, die postum in dem Band „Deutscher Geist und Westeuropa“ (1925) veröffentlicht wurden, genauso zu erkennen war wie an den Kolumnen für den Kunstwart, die er als „Spektator“ schrieb. Troeltsch starb unerwartet am 1. Februar 1923 und erlebte nicht mehr, was in diesem Schicksalsjahr und weiter folgen würde, aber er ahnte das Bevorstehen einer „Welle von rechts“, die man nicht einfach auf Ressentiment und Reaktion zurückführen könne, sondern die gespeist werde durch „die patriotische Scham und Empörung über das Schicksal Deutschlands, den Betrug von Versailles und die Schwäche der Regierung“.

Die Aufmerksamkeit, die das Werk Troeltschs seit geraumer Zeit erfährt, hat mit solchen Stellungnahmen nichts zu tun. Sie erklärt sich aus theologischen Gründen. Es geht dabei um den Versuch, die vor mehr als hundert Jahren von Troeltsch geforderte „Versöhnung der Kirche mit der Kultur“ heute zu verwirklichen. Überzeugend wirkt dieser Restaurationsversuch allerdings nicht. Denn der neue Kulturprotestantismus muß verzweifelt übersehen, was Troeltsch als das „Wesentliche in aller Religion“ bezeichnet hat – „Kultus und Gemeinschaft“ – und daß von dem „religiösen Grundvertrauen zu Einheit und Sinn der Wirklichkeit“, das er als Bedingung für die fruchtbare Beziehung zwischen Christentum und Moderne betrachtete, nicht einmal mehr in den Reihen der Kirchenmitglieder gesprochen werden kann.