© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Wie ein Trabant kreisen
Aufdringliche Empfindlichkeit: Katarina Schröter heftet sich in ihrem Dokumentarfilm „The Visitor“ wildfremden Menschen an die Fersen
Sebastian Hennig

In ihrer Filmdokumentation „The Visitor“ geistert Katarina Schröter durch die drei Megastädte São Paulo, Shanghai und Mumbai. Sie wird von der Kamera verfolgt, während sie sich auf der Straße wildfremden Leuten an die Fersen heftet. Eigentlich ist es die Kamera, welche die Menschen verfolgt, und die Frau wirkt nur als der Köder an dieser optischen Angel. Zudem ist sie eine Art menschliches Scharnier zwischen der Technik und den Personen.

Natürlich macht dabei auch die venezolanische Kamerafrau Paola Calvo ihre Gegenwart geltend und hat ästhetische Entscheidungen zu treffen. Dadurch wird die absehbare Nicht-Handlung des Films theatralisch. Andernfalls käme er der Aufzeichnung einer Überwachungskamera gleich. Da die natürliche Beleuchtung nicht den Bedürfnissen einer Inszenierung angeglichen wird, ändern sich die Schatten mit dem Perspektivwechsel der Kamera. Die Gesichter am Tisch im schmucklosen Quartier der Wanderarbeiter in Shanghai erhalten damit einen völlig anderen Ausdruck.

In gewissem Sinne dient die Kamera auch der Überwachung. Sie wirkt als Leibwächter. Ihre Anwesenheit kontrolliert die Situation. Die Tatsache ihrer Anwesenheit verschiebt das Gleichgewicht. Gegenüber einer ganzen Kolonne von Wanderarbeitern bleiben die Frauen immer in der Übermacht. Schröter sagt dazu: „Wäre die Kamera nicht dabei, würde ich mich wie eine Verrückte fühlen. Die Kamera gibt mir das Gefühl, es geht um etwas. Und ich glaube, für die Leute gilt das auch. Genauso wichtig aber ist auch mein Auftreten, wenn ich diese Figur darstelle – eine Art penetranter Sensibilität. Es ist wichtig, daß die Leute spüren, nicht verarscht zu werden. Sie müssen merken, daß ich keinen Plan in der Hinterhand habe, um sie vorzuführen, sondern daß ich ebenso planlos bin wie sie. Ich liefere mich auch aus – ich habe mir ein paar Regeln gesetzt, das war’s!“ Das letzte ist natürlich nicht ganz zutreffend. Denn auch ohne Drehbuch bleibt sie immer die Autorin.

Die Vorarbeiten zum Film haben gezeigt, daß die Autorität der Kunst und die Dominanz der Kamera nicht überall auf der Welt selbstverständliche Geltung beanspruchen können. Versuche in Moskau endeten in Verhaftungen. In Berlin versandete das Filmexperiment in einem neurotischen Ausbruch.

Die Autorin hat feststellen müssen, daß sie des Schutzes durch die Fremde für dieses Experiment bedarf. In Asien und Amerika läuft es also besser, in São Paulo, Mumbai und Shanghai. Die drei Orte versammeln jeweils rund zwanzig Millionen Einwohner. Eine Debatte über geistigen Kolonialismus fände hochentzündlichen Stoff an diesem Film. Doch der deklarierte Anspruch einer künstlerischen Performance wirkt dagegen wie eine Feuerschutz-Imprägnierung.

Vorstellbar, daß der Schock über das unmögliche Verhalten in der ferneren Fremde noch größer war. Vielleicht so gewaltig, daß die Angegriffenen sich zur Abwehr außerstande fühlten und in passive Ignoranz auszuweichen suchten. Schröter sagt nichts. Sie handelt nicht, lächelt kaum. Sie kreist nur wie ein Trabant um die Menschen herum, heftet sich wie ein Schatten an. Die kleine dunkle Inderin im Sari betastet die schlanke weiße Frau im schwarzen Kleid. Sie zieht an ihrer Unterlippe. „Wie ein Tier.“ Als jene auch ihr an den Arm faßt, glaubt sie sich für die Hautfarbe mit der Einwirkung der heißen Sonne entschuldigen zu müssen.

Auf der Gasse kommt ein Mädchen gelaufen. Sie ist in ein Heft vertieft. Es entspinnt sich ein Gespräch, ohne eigentliche Inhalte, aber im vertraulichen Ton eines Kindes geführt. Dann werden spontan die Schuhe getauscht. In den großen ledernen Tretern schlottern die braunen Kinderfüße. Die Riesenfüße der schlanken Frau stehen weit über die einfachen Zehenschlappen. Es sind spontane Capriccios einer gleichgültigen Kontaktfreude.

Katarina Schröter ist ein durchsichtiger eigenschaftsloser Gast. Neben dem Taxifahrer Cigano in São Paulo erwacht sie morgens auf dem Beifahrersitz. Es bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen, ob auch die Kamerafrau die Nacht auf der Rückbank verbracht hat. Cigano schläft seit 15 Jahren in seinem Auto. Die Körperpflege erledigt er im Fitneßstudio. Vampirisch durchstreift die Künstlerin die Szenerien, um sich vom Blut anderer zu mästen.

In Shanghai verfolgt sie eine Passantin, die Schröter unter Aufbietung aller Großstadtroutine geflissentlich zu ignorieren sucht. Als eine Baustelle den Weg versperrt, verliert sie beinahe die Fassung. In der Straßenbahn nimmt die Verfolgerin hinter ihr Platz. Ihre schlanke Hand hält sie über der Rückenlehne des Sitzes nach dem bloßen Hals ihres Opfers ausgestreckt. Wie „Nosferatu“ droht sie schwebend über der kleinen Asiatin. Dem Ausbruch der Pest in der fiktiven Hafenstadt Wisborg in Mur-naus Stummfilm von 1922 entspricht im Filmexperiment von 2014 die Seuche einer grassierenden Beziehungslosigkeit, als deren düsterer Engel Katarina Schröter erscheint.

Zuletzt wird die geheimnisvolle Fremde von Christina Feng, so heißt die Asiatin, in die Wohnung gewinkt. Aus der unterschwelligen Sehnsucht entwickelt sich eine Gemeinschaft, wächst ein Gefühl der Zuneigung. Dieses wird von der Künstlerin enttäuscht. Erst durch ihren Rückzug löst sich das Kunstwerk des Films von der Realität ab.

Der Film läuft am 5. Februar in einigen ausgewählten Kinos in Konstanz, Leipzig, Dortmund, Hannover, München und Berlin an.

www.visitorfilmproject.com

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