© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Als ich einem Hamburger Freund am Telefon das Nichtereignis vortrage, das sich gerade am Nachbartisch im Café abgespielt hat, ruft er begeistert: „Das ist ja original Judith Hermann!“ Ein junger Mann reflektiert gegenüber einer Freundin, beide wohl Mitte Zwanzig, über sein Leben: „Das ist schlimm, wenn ich in meiner Beziehung diskutieren muß, das ist, als wäre mein ganzes Leben dahin.“ Und kurz darauf: „Was kraß ist: Wenn ich mit jemandem zusammen bin, verlier ich sofort mein ganzes Leben aus den Augen.“ Darauf sie: „Genau!“ Er wiederum: „Und ich war wirklich die meiste Zeit meines Lebens nicht allein.“ Schließlich resümiert er leicht betrübt: „Es gibt so viele Dinge, die man tun kann – mir fehlt immer nur die Idee.“

Leider ist die Litanei noch lang nicht vorbei. Der Typ spricht jetzt von der Problematik des fremden Freundeskreises in einer neuen Beziehung: „Und dann bist du erst die Nr. 21 in der Liste ... aber vielleicht mag ich die auch gar nicht, ich kann mich da gar nicht entscheiden.“ Beide kichern – und ich sehe keine Möglichkeit, dagegen zu demonstrieren.

Auch sonst geht jede Demonstration fehl. Denke an den Refrain im Pankow-Song „Langeweile“ zum Ende der DDR: „Ich bin rumgerannt, zuviel rumgerannt (...) ist doch nichts passiert“ – und dann passierte es doch. Aber heute? Beim Pegida-Ableger in Berlin, seitlich des Roten Rathauses, wird Manfred Rouhs mit seiner Kamera von den Demonstranten abgedrängt und beschimpft: „Lügenpresse, halt die Fresse!“ Sein Protest, er sei doch Pro Deutschland, verfängt hier nicht. Ein für den Deutschen Filmpreis nominierter Regisseur, der an jenem Abend ebenfalls dort war, beklagt sich bei mir später über die Einfallslosigkeit der Bärgida-Bewegung, „ohne jegliches Gespür für Inszenierung“. Ein einziges Mal habe er doch beeindruckt aufgehorcht, als die Bärgida-Leute der linken Meute im Chorus entgegenriefen: „Träumen, Träumen!“ – bis er enttäuscht realisierte, daß sie nur „Räumen“ riefen. Ganz anders Sachsen: Dort berichtete die Presse, die Legida-Leute hätten aggressiv „Schiebt sie weg, schiebt sie weg“ gerufen. Tatsächlich, erzählt mir ein Augenzeuge, lautete die Losung in Richtung der jungen Gegendemonstranten „Geht ins Bett, geht ins Bett!“

Empfang nach einer Podiumsdiskussion um den „NSU“-Komplex. Die Mexikanerin hadert: Leider erfahre sie in ihrem deutschen Umfeld keinen Rassismus. In Mexiko würde ihr das keiner glauben. Sofort klären ihre deutschen Freunde die Lage: „Klar gibt es Rassismus, ich sag nur Dresden.“

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