© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Mehr Gedichte, weniger Phrasen
Generation Ahnungslos: Ein Plädoyer für humane Bildung gegen ihre Verächter und die Betroffenen
Harald Seubert

Eine 17jährige Abiturientin aus Köln twitterte jüngst ihr Leiden: In der Schule habe man ihr die notwendigen Dinge, wie Steuererklärungen abzugeben, nicht beigebracht; von Miete oder Versicherungen habe sie keine Ahnung. Dafür könne sie Gedichtinterpretationen in vier Sprachen schreiben. Der übliche Internethype an Zustimmung und Ablehnung brandete auf. Die Realsatire begann: Politisches Personal diskutierte ernsthaft über das Desiderat an Praxisnähe in Schulen. Das Mädchen konnte nicht mehr und meldete sich aus der Community ab.

Hier meldete sich eine Betroffene in den allen offenstehenden Medien mit der Bitte, von unnötigem Bildungsballast verschont und auf das Wesentliche, das ameisenhafte Überleben in der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft reduziert zu werden. Ein Indiz, nicht mehr. Auch wir stöhnten, als wir jung waren, unter manchen Bleigewichten humanistischer Bildung.

Doch in den letzten Jahren ist auf diesem Sektor Dramatisches geschehen: Die Universitäten sind im Bologna-Prozeß weitgehend zu Massenausbildungsstätten degradiert worden. Wer sich wie schnell zu einem Seminar einloggen kann, entscheidet mehr über Erfolg oder Mißerfolg als Leistung, Denk- und Sprachvermögen und Urteilskraft. Der „Akademisierungswahn“ (Julian Nida-Rümelin) hat zu einer Egalisierung auf niedrigst möglichem Niveau geführt, die mit den Pisa-Tests und einer Effizienzhetze in den Schulen beginnt. Gefragt wird, was man sich an Bildung noch leisten kann? Dem Grundschulverband zufolge noch nicht einmal das Erlernen der Schreibschrift.

Gerade Gedichtinterpretationen bilden dazu einen Kontrapunkt: In der Lyrik kristallisieren sich – höchst verdichtet – Epochen und Kulturen aus. Sprache erreicht ihre höchste Virtuosität und Schönheit. Ein Gedicht, das zählt, mag aus der – geographischen oder zeitlichen – Fremde zu uns kommen: Es kann uns treffen, weil es „nennt“, beschwört. Solche Gedichte, von denen nach Gottfried Benn ein Lyriker nicht mehr als drei oder vier in seinem Leben zu Wege bringt, sind klüger als ihre Verfasser – und ihre Leser.

In der Lyrik wurde die Entzauberung der Welt durch Naturwissenschaft und Technik konterkariert und ebenso die Banalisierung einer Welt ohne Gott. Die toten und die lebenden Dichter bilden ein großes Gespräch der „ästhetischen Korrespondenzen“ (Reinhard Knodt). Aus diesem Geist konnte Friedrich Schiller schreiben: „Und die Sonne Homers / siehe, sie leuchtet auch uns!“

Lyrik ist damit das genaue Gegenbild zur Phrase, die auf allen – das Humanum kontrollierenden und normierenden – Kanälen sich austobt und auf die Dauer unfähig macht, einen eigenen Gedanken zu fassen oder ein eigenes Gefühl auszusprechen. Wie ich mit Takt und Achtung, gegebenenfalls mit Leidenschaft und Liebe dem Anderen begegne: ich erfahre es nicht im Gender-Handbuch, sondern in der großen Literatur. Und wie eine andere Kultur in ihrer Tiefe geprägt ist, erfahren wir, wenn wir ihre Dichter lesen. Noch immer verdankt sich der Ruf des deutschen Geistes in Rußland, China oder Japan zumindest ebenso Hegel, Hölderlin und Heine wie Siemens und „Made in Germany“.

Lyrik ist, neben bildender Kunst, Musik und Philosophie, der ausgezeichnete Ort, an dem „humane Bildung“ stattfinden kann. Nur diese Bildung, zu der essentiell auch der Schatz der großen Religionen gehört, rüstet uns emotiv und intellektuell gleichermaßen aus. Kunst gehört zu den „ernsten Spielen“ (Goethe). Daher sollte man auch im 21. Jahrhundert noch an das Diktum Schillers erinnern, daß nur derjenige ganz Mensch ist, der spielt. Ich plädiere entschieden für mehr Kunst und weniger Ideologie, für mehr Gedichte und weniger Phrasen, für mehr Muse und weniger vorweggenommene Scheineffizienz.

Welche Chance für Schulen und Lehrer – und wie oft wird diese Chance vertan! Man muß deshalb nicht die Schule neu erfinden. Genug wäre es, Lehrern mehr Freiheit zu lassen; die ständigen Statistiken der empirischen Bildungsforscher freier zu sehen und den Lehrplan als Geländer, nicht als Gefängnis zu begreifen. Zu wünschen ist auch, daß der literarische Kanon der Gymnasien geweitet wird, daß in fächerübergreifendem Unterricht auch ein erster Einblick in „Weltliteratur“ entsteht, der Lust auf Vertiefung weckt. Dazu gehört auch, daß das Lesealter, das so nie wiederkehrt, genutzt wird. Wieviel weniger flach wird die Welt sein.

Zu den Gedichtinterpretationen selbst hat der große Kritiker Joachim Kaiser vor mehr als dreißig Jahren einen wunderbaren Vorschlag gemacht: In den ersten Gymnasialklassen könnten Jugendliche, die auch mit höherer Mathematik und Geometrie umgehen, schon mit schwieriger, modern avantgardistischer Literatur konfrontiert werden. Doch die Zartheit eines Mörike-Gedichts, das Schweben der Romantik, sollte man den höheren Klassen vorbehalten. Fast noch wichtiger wäre es, die Lehrerfrage „Was will uns der Dichter damit sagen?“ zu verbieten und Formen kreativer Aneignung neben der Einübung in angemessenes Verstehen zu trainieren.

Die heutigen Bildungskiller hätten es nicht so leicht, wenn nicht Lehrergenerationen mit dem Ideologem vom „Tod der Kunst“ aufgewachsen wären und wenn nicht die Dominanz der Autoren der Gruppe 47 und mancher Dokumentarschreiber das Bild von Literatur im Stundenplan bis heute bestimmen würde. Benn, Rilke oder Hofmannsthal, auch der frühe Brecht der Gedichte wären zu entdecken, der Kanon aus seiner Engführung zu befreien.

Lektüre hat Folgen: Wer die Macht der Sprache und die Stringenz tieferer Gedanken gekostet hat, wird geradezu allergisch gegen Manipulationen aller Art. Wer sich mit dem vordergründig nicht „Nützlichen“ beschäftigt hat, wird später kreativer und ideenreicher auf verschiedenste berufliche Herausforderungen reagieren können. Es ist ein fataler Fehler, Schule und Universitäten lediglich als Ausbildungsstätten zu begreifen, die nach ihrem Ausstoß und nicht nach ihrer Qualität gemessen werden.

Die Technika des Lebens lernt man aus Erfahrung, und man lernt sie von selbst. Nicht zuletzt sind es die „Helikopter“-Eltern, die eine lebenslange Totalversicherung für ihre Nachwuchs wünschen, die eine „Generation Ahnungslos“ hervorgebracht hat. Dagegen helfen nicht zuletzt Gedichtsinterpretationen in vier Sprachen.

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie und Religionswissenschaft an der STH Basel. Daneben unterrichtet er an der Hochschule für Politik in München.

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