© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Alle ringen mit der profanen Not
Erster Weltkrieg: Geschichte in Infinitiven
Sebastian Hennig

Der Erste Weltkrieg hinterließ mehr Nachrichten als die nachfolgenden Generationen sogleich entziffern wollten und konnten. Die künstlerische Formung entlastete von der Ungeheuerlichkeit des Erlebten. Überlieferte Rohdokumente lassen uns nun wieder auf jenes besondere Ereignis zurückblicken, das der Krieg für jeden einzelnen zunächst darstellte. Der umfassende Band „Es ist Frühling, und ich lebe noch“ versammelt Zeugnisse aus der Handschriftensammlung der Wienbibliothek. Unter fünfzehn Infinitiven von Aufzeichnen bis Zensieren sind alle Aspekte aufgefächert.

Der Krieg als großer Gleichmacher

Der Anspruch, eine privatime Kriegsgeschichte en detail zu geben, erfüllt das Buch sehr eindringlich. Fotografien, Briefe und Postkarten lassen die Atmosphäre der Wahrnehmung jener Jahre lebendig werden. Die Kommentare von Marcel Atze und Kyra Waldner dienen der weiteren Erläuterung der Umstände. Ihre Betrachtung ordnet sich der jeweiligen Blickweise der Dokumente unter. Neben den Rubriken „Dichten“, „Malen“ und „Komponieren“ mit berühmten Protagonisten stehen „Mustern“, „Pflegen“ und „Verweigern“.

Entsprechend sind Autoren von Weltrang unter Namen ohne besonderen Klang gemischt, deren Erzählungen kaum weniger bemerkenswert sind. Alle ringen mit derselben profanen Not. Franz Blei will sein Klavier in Brot verwandeln, während die Kriegsgefangenen in Sibirien in einem Puppenspiel den Kaspar von Liebe und Apfelstrudel träumen lassen. Der Krieg war der große Gleichmacher.

Generalstabschef von Hötzendorf verlor seinen Sohn in den ersten Kriegswochen in Galizien. So hatte er es lange zuvor befürchtet und geahnt. Egon Poetzl hat vor dem ersten tödlichen Einsatz noch eine Reihe von Postkarten nach Hause auf Tage vordatiert, die er nicht mehr erleben sollte. Sie gelangten dann zusammen mit den Habseligkeiten eines Toten nach Hause. In feiner Kalligraphie schreibt Josef Luitpold der Verlobten als Erasmus an seine Königin von Navarra maskierte Briefe. Der Krieg findet darin auch zwischen den Zeilen keinen Platz.

Marcel Atze / Kyra Waldner (Hrsg.): „Es ist Frühling, und ich lebe noch“. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Residenz Verlag 2014, geb., 440 Seiten, 29,90 Euro

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