© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Die Verfassung sprengen
Gehört der Islam zu Deutschland? Zu den Tonlagen und Feinheiten einer Debatte
Thorsten Hinz

Der Islam gehört zu Deutschland!“ verkündete Angela Merkel auf einer Pressekonferenz, während der türkische Ministerpräsident lächelnd neben ihr stand. Die Kanzlerin besitzt das Talent, große Worte gelassen auszusprechen. Das könnte eine sympathische Eigenschaft sein, wenn dahinter große Gedanken und Erkenntnisse stünden.

Doch Merkels Rhetorik ist nur eine taktische Scheingröße, die auf den Augenblickseffekt, auf die aktuelle Mehrheitsfähigkeit abzielt. Von diesem Kontext abgelöst, fallen ihre Sätze in sich zusammen. Leider geht das nicht ohne strategische Kollateralschäden ab.

Etwa als sie 2011 im Bundestag erklärte: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Der Spruch erfüllte den beabsichtigten Zweck, die Abgeordneten auf die Euro-Rettungspolitik einzuschwören. Als unvermeidliche Nebenwirkung aber konnten die Schuldnerländer ihm entnehmen, daß Deutschland für ihre Schulden einstehen würde. Damit war der Reformdruck von ihnen genommen und Deutschland erpreßbarer denn je.

2010 sagte sie auf dem Deutschlandtag der Jungen Union: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ Jetzt erklärt die überzeugungsfreie Taktikerin faktisch das Gegenteil. Ihre Beliebigkeit in einer zentralen Frage kritisieren inzwischen auch hohe Parteifreunde öffentlich. Selbst ein treuer Knappe wie Fraktionschef Volker Kauder ging auf Distanz und erklärte, die Muslime gehörten zwar zu Deutschland, der Islam sei hier aber keine kulturprägende Kraft.

Die Kanzlerin schob in einem Zeitungsinterview die Begründung nach, daß „sehr viele Muslime hier in Deutschland leben, insgesamt rund vier Millionen Menschen (...) Sie sind ein Teil von Deutschland, und der Glaube, der ihnen wichtig ist, ist es inzwischen auch.“

Das ist erneut eine andere Tonlage, ein halber Rückzieher, denn die Feststellung, daß in Deutschland viele Muslime wohnen, die ihren Glauben pflegen, ist etwas ganz anderes, als den Islam, der keine geschichtliche Verankerung in Deutschland hat, zu seinem konstitutiven Teil zu erklären und ihn damit einzuladen, die Fundamente des Landes mitzudefinieren. Der Satz bleibt trotzdem in der Welt, und islamische Interessenverbände und Staatsmänner werden ihn als politischen Hebel benutzen.

Zwei Probleme verknüpfen sich hier miteinander: der Stil und das Politikverständnis der Kanzlerin sowie die zunehmende Bedeutung des Islam. Über Angela Merkel ist schon alles gesagt: über ihren Machterhaltungsinstinkt, ihre hohe Intelligenz bei gleichzeitiger Unbedarftheit in geistesgeschichtlichen, kulturellen und historischen Fragen. Der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit unternimmt in dem Buch „Alternativlos. Merkel, die Deutschen und das Ende der Politik“ (2014) den interessanten Versuch, die Kanzlerin als repräsentativen deutschen Phänotyp beziehungsweise – im Sinne von Ernst Kantorowicz’ „Zwei Körper des Königs“ – als Verkörperung ihres Staatsvolks zu beschreiben, das im 20. Jahrhundert ein Übermaß an Geschichte durchlebt hat, das gealtert und jedem Abenteuer abgeneigt ist – das sich nach Schonung sehnt. Die Schonung gewährt Merkel ihm durch ihr Bemühen um größtmögliche Konfliktvermeidung. Da Politik aber ohne Konflikte nicht zu haben ist, heißt das zugleich, daß „Deutschland sich unter Merkel als ökonomische Nation, nicht als politische“ präsentiert.

Dem Autor fehlt das Vokabular, um die Konsequenzen der politischen Regression zu erfassen: Die Politik hört ja nicht auf, bloß weil ein Teilnehmer sich aus ihr zurückzieht. Er wird vom Subjekt zu einem Objekt der anderen. Wie wenig die Wirtschaftskraft eines Landes seinen politischen Willen ersetzen kann, sieht man gerade an der Unfähigkeit der Bundesregierung, die deutschen Sparer und Steuerzahler vor der Ausplünderung durch die EZB zu schützen. Merkel repräsentiert die politische Neutralisierung beziehungsweise Selbstneutralisierung Deutschlands.

Das gilt nach außen wie nach innen. Die Erklärung der Kanzlerin zum Islam gehört ebenfalls zu ihrem Schonungsprogramm der Politikvermeidung. Sie hofft offenbar, gesellschaftliche Harmonie durch Entgegenkommen zu erreichen. Die genannten Wissensdefizite hindern sie, die strategischen Risiken ihres Taktierens zu erkennen.

Merkel berief sich auf Ex-Bundespräsident Christian Wulff, der den Satz 2010 in seiner Rede zum „Tag der Deutschen Einheit“ geprägt hatte. Inzwischen hat ein FAZ-Artikel enthüllt, wie er zustande gekommen ist. Der Stern-Journalist Hans-Ulrich Jörges traf einen aus Afghanistan stammenden Kollegen, der sich von den Thesen Thilo Sarrazins „als Deutscher und Muslim verletzt“ fühlte und den dringenden Wunsch äußerte, „der Bundespräsident müsse sagen, daß der Islam zu uns gehört“. Jörges, der ein enges Verhältnis zu Wulff unterhielt, gab die Bitte an dessen Pressesprecher Olaf Glaeseker weiter. Wulff beriet darüber mit Bild-Chef Kai Diekmann und dessen Frau, die zum Frühstück ins Schloß Bellevue gekommen waren. Bettina Wulff und Glaeseker gehörten ebenfalls zu dem erlauchten Kreis, der über die Neudefinition der deutschen Identität entschied.

In seinem Buch „Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa“ (2013), das sich mit dem Verhältnis des Islams zum Kontinent beschäftigt, vertritt der inzwischen emeritierte Althistoriker Egon Flaig die Auffassung, daß „Journalisten und Politiker zu einer bildungsfernen Schicht geworden“ seien. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehören könne, beantwortet er dennoch mit einem Zitat des Grünen-Chefs Cem Özdemir: Ja, wenn er „unter dem Grundgesetz gelebt wird“!

Dafür gibt es viele individuelle Beispiele, die so selbstverständlich sind, daß man sie kaum wahrnimmt. Diese Menschen gehören zweifelsfrei „dazu“. Ob ein organisierter, von demographischer Dynamik und Zuwanderungsschüben getragener Islam, wenn er eine bestimmte Größe erreicht hat, die Verfassung tatsächlich noch respektieren wird, ist dagegen zweifelhaft. Es liegt näher, daß er sie als Gefängnis empfindet und zu sprengen versucht, denn er hat Ausformungen und politische Ansprüche, die mit dem säkularen Staat kollidieren. Ihm pauschal seine Zugehörigkeit zu bestätigen heißt also, die destruktiven Tendenzen zu legitimieren.

Im Mai 2012 kam es in Bonn zu bürgerkriegsähnlichen Szenen, als Salafisten gegen eine islamkritische Pro-NRW-Demonstration mobil machten und 29 Polizisten verwundeten. Der Zentralrat der Muslime verurteilte „die Gewaltanwendung“ und distanzierte sich „von gewaltbereiten Muslimen, die zur Selbstjustiz anstacheln und die Polizei angreifen“.

Die Feinheiten dieser Formulierung haben die deutschen Politiker und Medien überhört. Als „Unrecht“ hatte der Zentralrat lediglich die Selbstermächtigung zum Handeln bezeichnet, die dahinterstehende Absicht mit dem Begriff „Selbstjustiz“ hingegen als „gerecht“ anerkannt. Flaig: „Der Zentralrat der Muslime erklärt den blutigen Angriff auf die Ordnungskräfte der liberalen Demokratie zu einem ungerechtfertigten Akt, der Gerechtigkeit herstellen sollte.“ Die Mitglieder des Zentralrats sind eben nicht nur Taktiker, sie sind auch Strategen.

Das strategische Ziel zeichnet sich in Äußerungen des Islam-Funktionärs Aiman Mazyek ab, wonach die Scharia und das Grundgesetz vereinbar seien. Er begründet das damit, daß die Scharia nichts Starres sei, woraus der naive Bürger schließt, daß ihre Auslegung sich stillschweigend den in Deutschland geltenden Normen anpassen würde. Aber Mazyek erklärte ebenfalls: „Das europäische Abendland steht ganz klar auch auf muslimisch-morgenländischen Beinen. Wer das leugnet, betreibt Geschichtsfälschung.“ Er zeigt damit, daß er sich das Vokabular der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik perfekt angeeignet hat und für seine Zwecke nutzt.

Flaig stellt klar, daß dort, wo der Islam als herrschende Religion Platz griff, es bald keine Volksversammlungen und sich selbstverwaltende Bürgerschaft mehr gab und das öffentliche Leben zum Erliegen kam. Von einem islamischen Anteil an der Entstehung des modernen Europa könne keine Rede sein, seine zitierten Leistungen beruhten auf antiken Grundlagen. Den islamischen Wortführern gehe es darum, durch die Okkupierung der europäischen Vergangenheit die Definitionshoheit über die Errungenschaften der Kultur und der Zukunft Europas zu gewinnen. Dann würde nicht die Scharia gemäß dem Grundgesetz, sondern die Verfassung nach der Scharia ausgelegt werden.

Es wäre die Aufgabe des säkularen Staates, solchen Bestrebungen unmißverständlich entgegenzutreten. Dazu aber ist die politisch-mediale Klasse außerstande. Ihr Denken, Reden und Handeln bewegt sich in den Bahnen des Politisch-Korrekten, einer Verbindung aus moralischem Rigorismus, historischer Amnesie und Unwissen. Sie konnte sich auch deswegen ausbreiten, weil die ältere Geschichte zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus und damit zur Nicht- beziehungsweise Ungeschichte geworden ist. In dieses Vakuum stößt der Islam. Das ist die geistig-kulturelle Komponente der durch Merkel repräsentierten Neutralisierung. Diese Kombination aus politischer Schwäche und Kulturbarbarei kann für Deutschland und Europa tödlich enden.

Foto: Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundespräsident Joachim Gauck, der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, und Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Januar 2015 vor dem Brandenburger Tor in Berlin: Augenblickseffekt

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