© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Sechs Punkte zur aktuellen Flüchtlingsdebatte
Wir müssen handeln
Holger Michiels

Die deutsche Wirtschaft schrumpft, aber eine Branche besitzt glänzende Wachstumsaussichten: die hiesige Migrationsindustrie. Im abgelaufenen Jahr wurde Deutschland mit über 202.000 neuen Anträgen zum größten Magneten für Asylbewerber unter allen Industriestaaten – ein Anstieg um knapp 76.000 oder um satte 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach vergangene Woche angesichts dessen von der „bislang vierthöchsten Zahl von Asylbewerberzugängen, die je in Deutschland verzeichnet worden ist“. Bereits jetzt nimmt unser dichtbesiedeltes Land 18 Prozent aller Asylanträge in der westlichen Welt und 30 Prozent in der EU entgegen.

Der Trend zum Weltflüchtlingszentrum, der immer sichtbarer die deutschen Innenstädte erfaßt, zwingt mittlerweile die Politik, ihr Heil in entwaffnender Ehrlichkeit zu suchen. Ende vergangenen Jahres verkündete de Maizière in Anbetracht des erwartbar hohen Ansturms: „Wir müssen das Instrument der Abschiebung wieder praktikabel machen.“ Im Klartext: Das deutsche Asylsystem funktioniert nur noch auf dem Papier. Seit Jahren ist die Zahl der Abschiebungen bei gleichzeitig steil ansteigenden Flüchtlingszahlen stark rückläufig („Niedrige Abschiebezahl lockt Flüchtlinge an“, Die Welt, 22. Oktober 2014). 2013 wurden nur noch rund 10.000 abgelehnte Asylbewerber abgeschoben, weniger als zehn Prozent der Ankömmlinge jenes Jahres. Mitte 2014 belief sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die sich trotz Ausreisepflicht weiterhin in Deutschland aufhielten, auf 143.000 Personen. Wer einmal angekommen ist, bleibt also unabhängig von seiner realen Schutzbedürftigkeit zumeist hier.

Und wer sollte es diesen Menschen aus Afrika und Asien auch verdenken? Deutschland bietet Flüchtlingen mit die besten finanziellen und sonstigen Konditionen von allen Ländern ringsherum an. Verhalten diese Flüchtlinge sich nicht vollkommen rational, wenn sie die angebotenen Hilfsleistungen in Anspruch nehmen? Und verhalten viele Deutsche sich nicht irrational, wenn sie es diesen Personen trotzdem irgendwie zum Vorwurf machen, daß sie zu uns kommen?

Die ganze Debatte um die deutsche Asylpolitik ist eigentlich keine, ist nie eine gewesen. Schon der Begriff „Politik“ verbietet sich, weil dieser eine staatliche Steuerung und Kontrolle suggeriert, die angesichts des Menschenansturms längst verlorengegangen ist. Und zu einer echten Debatte würden kontroverse Grundansichten gehören. Aber was diskutiert wird, sind letztlich bloß Detailfragen: Wie bringen wir die Flüchtlinge in den Kommunen unter, wie können wir den Grenzschutz an Bahnhöfen verbessern etc. – alles wichtig, aber auch alles Ausdruck einer tiefsitzenden Angst, sich dem Phänomen der neuen Völkerwanderung in seiner ganzen Dimension zu stellen. Folgendes ist ein erster Versuch, den Blick für die grundsätzlichen Fragen und Herausforderungen für Deutschland zu öffnen:

Gerade einmal elf Prozent aller Menschen leben in echten Demokratien. Unter den gegenwärtigen demographischen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist das derzeitige Asylrecht der Versuch, die halbe Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen.

1. Die Süd-Nord-Wanderung wird nicht aufhören, sondern hat gerade erst ihren Anfang genommen. Motor der laufenden Bevölkerungsexplosion im 21. Jahrhundert wird Afrika sein. Die afrikanische Bevölkerung, die 1950 kaum viermal so groß wie die Deutschlands war, beträgt derzeit eine Milliarde Menschen. Sie wird sich nach der jüngsten offiziellen Prognose der Uno bis 2050 verdoppeln und bis 2100 auf vier Milliarden Menschen vervierfachen (Uno World Population Prospects 2013). Vor der Haustür liegt die Wohlstandsinsel Europa; nirgendwo sonst auf der Welt ist das kontinentale Wohlstandsgefälle so ausgeprägt und die Bevölkerungsentwicklung so radikal verschieden. Die Dysfunktionalität Afrikas wird den Strom von Flüchtlingen über das Mittelmeer unaufhörlich anschwellen lassen.

2. Artikel 16 des Grundgesetzes spricht politisch Verfolgten aufgrund der Erfahrungen aus dem Dritten Reich das Recht auf Asyl zu. Den Vätern des Grundgesetzes wären dabei allerdings nie die globalen Flüchtlingsströme unserer Zeit in den Sinn gekommen. Die Regelung ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts gründlich obsolet geworden: Laut Studien der renommierten Economist Intelligence Unit (The Economist Group, London) leben gerade einmal elf Prozent aller Menschen in echten Demokratien, wohingegen 37 Prozent unter der Fuchtel von autoritären Regimen stehen und der Rest in allerlei Mischformen lebt (Democracy Index 2012). Das sind bis zu 6,4 Milliarden Menschen mit einem zumindest theoretischen Rechtsanspruch auf Asyl in der Bundesrepublik. Zwar sieht das Grundgesetz die Möglichkeit zur Erklärung von ganzen Staaten zu sicheren Herkunftsländern vor, aber gerade einmal 25 der 167 Flächenstaaten der Welt erfüllen dem Economist zufolge die Bedingungen zum vollen Rechtsstaat.

Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg unterstellt sogar EU-Demokratien wie Italien, kein sicheres Land mehr für Abschiebungen zu sein („Abschiebungen innerhalb der EU werden schwieriger“, Die Welt, 5. November 2014). Unter diesen demographischen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist das derzeitige Asylrecht der Versuch, die halbe Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen.

3. Die Debatte konzentriert sich auf Druckfaktoren wie Verfolgung und Diskriminierung, die die Flüchtlinge zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Weitgehend unberücksichtigt bleiben dagegen die mächtigen Zugfaktoren, die wir selbst zu verantworten haben. Entgegen der migrationistischen Annahme, die in dem „Flüchtling“ stets das hilflose Opfer höherer und widriger Umstände sieht, gibt es keinen Grund, diesen Menschen die Fähigkeit zur Planung und Verfolgung ökonomisch rationaler Motive abzusprechen. Wie jeder andere Mensch auch ist der Flüchtling ein homo oeconomicus, der seinen Eigennutzen zu maximieren sucht und seine Handlungen danach ausrichtet. Vor dem Hintergrund der großen Kaufkraftunterschiede zur Dritten Welt setzen die deutschen finanziellen Zuwendungen an Asylbewerber unzweifelhaft migratorische Anreize. Die Tatsache, daß ein Großteil der Flüchtlinge aus den – sicheren – EU-Eintrittsländern weiter gen Norden oder Westen zieht, beweist dies. Solange diese Zugfaktoren nicht beseitigt werden, wird eine Lösung des Flüchtlingsproblems illusorisch bleiben.

4. Deutschland hat keine eigenen Grenzen mehr. Mit dem Schengener Abkommen haben wir unseren Grenzschutz in die Obhut einiger nur bedingt funktionaler EU-Außenstaaten gelegt. Dementsprechend ist unser direkter Einfluß auf unser Schicksal geschrumpft. Allem Aktionismus auf EU-Ebene zum Trotz wird das Interesse der Transitstaaten an effektiver Grenzkontrolle geringer als unser eigenes bleiben, denn für diese Länder ist eine passive Duldung der Weiterreise mit deutlich weniger Aufwand und politischen Kosten verbunden.

5. Der Ausdruck „Integration“ ist zur Worthülse verkommen, denn die Frage lautet immer dringender: integrieren, aber in was eigentlich? Deutschland hat nach Angaben der Vereinten Nationen bereits heute die drittgrößte Einwanderungsbevölkerung der gesamten Welt (http://esa.un.org/unmigration/TIMSA2013/migrantstocks2013.htm). Wo die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich verflüchtigt hat, bedeutet Integration von Neuankömmlingen in der Realität die Einbindung in den bestehenden Flickenteppich aus partikularistischen Einwanderungsgemeinschaften und eben nicht in die deutsche Kultur und Gesellschaft, die bloß noch als Hintergrundrauschen wahrgenommen wird.

Jedes Land hat das Recht auf die Bewahrung der eigenen Lebensform. Aber wie soll das bei einer ununterbrochenen Masseneinwanderung überhaupt noch möglich sein? Hat sich die Politik jemals auf einen Schlußpunkt verpflichtet?

6. Der Gerechtigkeitsbegriff leidet unter einer einseitigen Auslegung. Es dominiert eine Gesinnungsethik, die das Recht des Flüchtlings auf Aufnahme in Deutschland verabsolutiert, wobei der qualifikatorische Zusatz „menschenwürdig“ durch Gerichte und Migrationsvereine immer ausgedehnter interpretiert wird. Folgenethische Gegenargumente, die auf die drohenden sozialen Verwerfungen in der deutschen Bevölkerung durch die Flüchtlingswelle verweisen, werden hingegen als Ausdruck von Intoleranz oder Rassismus abqualifiziert. Dabei gibt es gute Gründe, die aktuelle Aufnahmepraxis moralisch abzulehnen. Ein Punkt ist die Lastenverteilung: Die Bundesrepublik nimmt 18 Prozent der Asylbewerber auf, obwohl auf sie lediglich fünf Prozent des Weltinlandsprodukts, rund ein Prozent der Weltbevölkerung und weniger als ein Prozent der Weltfläche entfallen. Ist das gerecht?

Kritisch zu hinterfragen ist auch die Ablehnung jedes Volksbegriffs in der Diskussion. Jedes Land hat das Recht auf die Bewahrung der eigenen Lebensform. Aber wie soll das bei einer ununterbrochenen Masseneinwanderung, die eine Verschiebung der Mehrheits- und in der Folge auch der Machtverhältnisse bewirkt, überhaupt noch möglich sein? Hat sich die Politik jemals auf einen Schlußpunkt verpflichtet? Legt man der Flüchtlingsthematik Kants kategorischen Imperativ zugrunde, nach dem die Maxime des eigenen Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung zu gelten habe, ist die Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen sogar grundsätzlich abzulehnen, da sie angesichts des gewaltigen globalen Übergewichts an autoritären Staaten und armen Ländern von Deutschland nicht einmal ansatzweise durchzuhalten ist, ohne finanziell und kulturell zusammenzubrechen.

Die aktuelle Flüchtlingswelle wird von alleine nicht mehr aufhören, es sei denn wir ergreifen aktive Gegenmaßnahmen. Sie gehört neben der Eurowährungskrise und der dieser Tage wieder vor aller Augen offenbar werdenden Bedrohung durch den islamischen Terrorismus zu den drei Problemfeldern, die durch die Abgabe von deutschen Souveränitätsrechten an die EU und die Aufgabe nationalstaatlicher Denkprinzipien wesentlich begünstigt worden sind.

Eine Idee, die der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Manfred Schmidt, unlängst wieder ins Spiel brachte und die Beachtung verdient, ist der Aufbau von exterritorialen Auffanglagern in Afrika und Asien, in denen zuerst das Recht auf Asyl in Europa geprüft wird. Diese als „pazifische Lösung“ bezeichnete Praxis hat in Australien innerhalb eines kurzen Zeitraums zu einem völligen Einbruch des Zustroms an Bootsflüchtlingen und den damit verbundenen menschenverachtenden Schlepperaktivitäten geführt – und damit den Beweis erbracht, daß eine konsequente Verringerung der Anreizfaktoren zum Erfolg führen kann.

 

Holger Michiels, Jahrgang 1976, ist diplomierter Politikwissenschaftler und Magister der Philosophie. Nach Abschluß des Studiums an der FU Berlin arbeitet er als Buch-autor und freier Publizist.

Foto: Szene vor einer Asylbewerberunterkunft in Essen, Nordrhein-Westfalen: Nach seriösen Berechnungen hätten bis zu 6,4 Milliarden Menschen einen zumindest theoretischen Rechtsanspruch auf Asyl in Deutschland.

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