© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Lebensecht
Ausstellung: Das Liebieghaus in Frankfurt am Main präsentiert veristische Skulpturen
Claus-M. Wolfschlag

Malerei ist Farbe, Skulptur ist Form. Diese aus der Kunsttheorie der Renaissance stammende Definition ist bis heute prägend für unser kulturelles Bewußtsein. Dementsprechend ungewohnt erscheint uns die Vorstellung von Farbigkeit bei Skulpturen und Plastiken. Solchen „veristischen Skulpturen“ und den Techniken ihrer Fertigung widmet sich derzeit das Frankfurter Liebieghaus. Die Ausstellung „Die große Illusion“ behandelt das in unterschiedlichsten Stilperioden feststellbare Bestreben, möglichst lebensechte skulpturale Wiedergaben des Menschen zu erschaffen. 4.000 Jahre der veristischen Bestrebungen werden den Besuchern nahegebracht. Erkennbare Farbreste an ägyptischen, griechischen und römischen Funden beweisen, daß die uns heute als einfarbig vertrauten Werke einst bunt bemalt waren.

Den antiken Fundstücken sind folglich in der Schau Rekonstruktionen gegenübergestellt, denen die ursprüngliche Farbigkeit aufgetragen wurde. Zudem sind Arbeiten vom Mittelalter bis zur Barockzeit zu sehen, beispielsweise die bewegliche hölzerne Gliederpuppe des Jesuskindes aus einem Landshuter Ursulinenkloster, das spätere Bilderstürme unbeschadet überstanden hat. Ein dralles Gesicht mit rosa Bäckchen schaut einem unter lockigem Haar aus weißen Glasäuglein entgegen. Ein goldbesetztes Gewand mit Perlenkette ziert den Körper.

Illusionistische Effekte wurden in der veristischen Skulptur neben der Bemalung durch eingesetzte Augen, Perücken aus Echthaar, Schmuck und Kleidungsstücke erzeugt. Schon bei den sumerischen Skulpturen wurden Augen aus Muscheln, dunklem Kalkstein und Bitumen verwendet. Ägypter nutzten hierfür Bergkristall, die Griechen Marmor, Knochen, Elfenbein und Halbedelsteine. Wimpern wurden durch gestanzte Kupferbleche hervorgehoben, und Echthaarperücken sind seit römischer Zeit nachgewiesen.

Der infolge von antiken Funden entstandene Kunstbegriff der italienischen Renaissance und die daraus resultierende klassizistische Ästhetik beendeten das einstige Spiel mit der Farbe sukzessiv. Fortan wurde Skulptur als reine Form betrachtet, die weiße Marmorskulptur der Antike als Ideal, wie überhaupt die Idealisierung der Kopie oder der realistischen Darstellung der Natur der Vorzug gegeben wurde. Farbige Werke des Mittelalters fielen zunehmend in Ungnade. Der bis ins 18. Jahrhundert häufig verwendete plastische Werkstoff Wachs verschwand und wurde in die Unterhaltungskunst der Wachsfiguren-Kabinette verdrängt, deren bekanntestes Marie Tussaud 1835 in London errichtete.

Dennoch gab es auch weiterhin gelegentlich veristische Arbeiten. So zeigt in Frankfurt die um 1862 entstandene Büste „Algerische Jüdin“ des französischen Orientalisten Charles-Henri Joseph Cordier die ganze Qualität der immer noch unterschätzten Kunst des 19. Jahrhunderts. Edle Materialien wie Bronze, Onyx, Emaille und Amethyst wurden dafür meisterhaft kombiniert.

Erst seit den 1970er Jahren gewinnt die veristische Skulptur wieder an Bedeutung. Die Ausstellung schlägt den Bogen zu einigen modernen Werken, die auch zu den beeindruckendsten der Schau gehören. Zu den alten Werkstoffen wie Stein, Holz, Ton, Gips oder Edelmetalle gesellen sich nun Kunstharze oder Silikon. Als hätte er sich gerade erst hingesetzt, ruht der kleine Junge in Jeanshosen und Turnschuhen in einer Ecke des Ausstellungsraumes. Es ist das anfänglich stark kritisierte Werk „Seated Child“ von Duane Hanson aus dem Jahr 1974.

Eine in ein Bettlaken gehüllte Kleinfigur stammt von dem für seine veristische Plastik bekannten Australier Ron Mueck. Beeindruckend natürlich glänzen die Augen und die leicht verschmutzten Fingernägel von John De Andreas Aktfigur „Ariel II“ aus dem Jahr 2011. Und die wohl ergreifendste Figur der Schau stammt von dem Australier Sam Jinks, der sich in der hyperrealistischen Figurengruppe „still life“ von 2007 mit dem unbekleideten Leichnam seines Vaters in Form einer Pietà dargestellt hat.

Gerade die zeitgenössischen Arbeiten bestechen durch ihre technische Qualität und verunsichern uns durch ihre Lebendigkeit, obwohl wir ihres künstlichen Charakters bewußt sind. Das läßt die Reaktionen der Menschen früherer Jahrhunderte erahnen, die noch keine so starke rationale Trennung zwischen Realität und Bildwelt kannten.

Die Ausstellung „Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken“ ist bis zum 1. März im Frankfurter Liebieghaus, Schaumainkai 71, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr, zu sehen. Telefon: 069 / 60 50 98-200 www.liebieghaus.de

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