© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Ausweitung der Kampfzone auch im Café. Am Nachbartisch ein Romanautor, den ein Fotograf aus verschiedenen Perspektiven aufzunehmen versucht. Schließlich kommen wir ins Gespräch. Sein neuester Titel erscheint im Frühjahr bei DVA. Als ich den Namen Akif Pirinçci erwähne, geht der Romancier in Frontstellung: „Von Akif habe ich mich distanziert.“ Auf meine versöhnliche Geste zum Abschied, es sei eben „ein weites Feld“, schüttelt er entschieden den Kopf: „Das sehe ich anders, das ist mindestens von tiefen Gräben durchzogen.“

Das Gespräch eines Paares am Nachbartisch wenig später. Sein Vorschlag: „Zuhause bleiben und dann am richtigen Geburtstag essen gehen!“ Sie, eine Weile überlegend, schließlich präzisierend: „Und dann zur richtigen Zeit ... !“

Der Blick durch das Caféfenster nach draußen auf den Park zeigt eine große kahle Baumkrone, an deren Ästen und Zweigen etwa ein halbes Dutzend über die Schnürsenkel zusammengeknotete Schuhpaare baumeln. Seit Jahren schon zeigt sich dieses von unbekannten „Urhebern“ geschaffene Phänomen urbaner Intervention im Berliner Stadtbild – nicht selten auch an Laternen und Ampeln. Warum gibt es noch keinen namhaften Essay über dieses Bild, das eine Reflexion an der Schnittstelle von Soziologie, Philosophie und Kunst geradezu aufnötigt?

Schönhauser Allee. Vor mir an der Fußgängerampel zwei Frauen, die eine zur Linken einen kleinen Jungen an der Hand haltend. Rasch huschen die drei bei Rot über die leere Straße – wie ich es dort auch immer mache. Darauf die Mutter in belehrendem Ton zu ihrem Sohn: „Und, hast du jetzt auch nach links und rechts geschaut?“ Empört schießt es aus dem Jungen, mit erstaunlich rhetorischer Betonung: „Mann! Was soll die Frage, wie soll ich denn nach rechts gucken, wenn ihr davorsteht?“

Vor dem Café hält das Postauto: Augenscheinlich wird der Paketdienst der DHL in dieser Gegend nur noch von ebenso freundlichen wie fleißigen jungen Schwarzen erledigt, die deutlich netter sind als die früheren Zuträger.

Während des Pariser Attentats sitze ich im Café, im Hintergrund beschwört die Stimme der unvergleichlichen Amy Winehouse „just friends“. Darauf klingelt mein Mobiltelefon. Ein Freund unterrichtet mich über den Terrorakt. Als ich zahlen will, erklingt ein Chanson von Jacques Brel – unwillkürlich lache ich auf. Die Bedienung weiß noch nichts, sie kennt nicht einmal den Namen Brel.

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