© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Der Helfer brachte den Tod
Pannen, Vertuschungen, Ignoranz: Wie der Krankenpfleger Niels H. über Jahre hinweg unentdeckt morden konnte
Markus Brandstetter

Der 22. Juni 2005 ist ein Mittwoch. Auf der Intensivstation des Klinikums der Stadt Delmenhorst hat um zehn Uhr abends die Spätschicht begonnen. In Zimmer sechs liegt Dieter M., 63 Jahre alt, aus Bremen in einem künstlichen Koma. Dieter M. hat ein Leben lang im Justizvollzug gearbeitet, bis vor einigen Jahren bei ihm eine Krebserkrankung festgestellt wurde. Nach zwei erfolgreichen Operationen und einem Luftröhrenschnitt geht es ihm jedoch wieder besser. Es sieht alles danach aus, als würde der ehemalige Beamte seine schwere Erkrankung überleben und bald zu seiner Familie zurückkehren können.

Das ist so lange der Fall, bis kurz nach 22 Uhr der Krankenpfleger Niels H. Dieter M.s Zimmer betritt. Niels H. ist damals 28 Jahre alt und ausgebildeter Pfleger auf der Intensivstation, nebenher arbeitet er ehrenamtlich als Rettungssanitäter. Er hat seine Ausbildung am Bremerhavener Willehad-Hospital absolviert, danach war er von 1999 bis Ende 2002 Pfleger am Klinikum Oldenburg, erst auf der herzchirurgischen Intensivstation, dann in der Anästhesieabteilung. 2002 ist er ans Klinikum in Delmenhorst gewechselt.

Niels’ vornehmste Aufgabe wäre es, Leben zu retten, Menschen zu reanimieren und Todkranke zu betreuen, aber Niels H. tut etwas ganz anderes: Er bringt Menschen um. Niels H. ist der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz, ein pathologischer Killer, der statt Fürsorge, Hilfe und Rettung den Tod bringt.

Am Abend des 22. Juni, das letzte Tageslicht verblaßt eben im Westen, spritzt der Krankenpfleger Dieter M. 40 Milliliter des Medikaments Gilurytmal. Das ist der Handelsname eines Herzmittels, das als Hauptbestandteil Ajmalin besitzt, einen Wirkstoff der indischen Schlangenwurzel. Gilurytmal wird von Ärzten zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt, aber wie bei vielen Medikamenten entscheidet auch bei Gilkurtymal allein die Dosis, ob es sich um ein Heilmittel oder ein tödliches Gift handelt. Überdosiert verursacht der Wirkstoff Ajmalin lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen, das „Kammerflimmern“, einen plötzlichen Abfall des Blutdrucks und danach den Tod.

Niels H. weiß das, denn er ist nicht nur Krankenpfleger, dem Ärzte und Vorgesetzte stets ein überdurchschnittliches Fachkönnen bescheinigten – nein, Niels H. hat mit der absichtlichen Überdosierung von Gilurytmal bereits jahrelange Erfahrung, schließlich hat er zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Menschen damit getötet.

Obwohl Gilurytmal nur von Ärzten verabreicht werden darf und ein einfacher Krankenpfleger an das Mittel überhaupt nicht herankommen sollte, verbraucht Niels H. es auf den Stationen, auf denen er tätig ist, schachtelweise, ohne daß jemand Notiz davon nimmt, geschweige denn etwas dagegen tut.

Nachdem Niels H. das Gilurytmal gespritzt hat, tritt er an die Infusionspumpe, die neben Dieter M.s Bett steht, heran und stellt die Pumpe auf Null. Der an die Infusionspumpe angeschlossene Überwachungsmonitor löst in solchen Fällen sofort einen durchdringenden Alarm aus, aber Niels H. stellt den Ton aus. Bei Dieter M. setzt nun binnen Minuten lebensbedohliches Kammerflimmern ein, sein Blutdruck sackt dramatisch ab, der Patient, der soeben noch stabil in seinem Bett gelegen hatte, kämpft mit einem Mal um sein Leben. 29 Stunden später wird Dieter M. tot sein.

Eine Krankenschwester wird mißtrauisch

Niels H. steht neben dem Bett und wartet darauf, daß Dieter M. stirbt, aber dann kommt plötzlich eine Krankenschwester ins Zimmer. Dieser ruft Niels H. in geheuchelter Besorgnis zu: „Dein Patient hat keinen Druck mehr.“ Die Krankenschwester ruft sofort einen Kollegen, und gemeinsam gelingt es den beiden, den Zustand von Dieter M. zu stabilisieren.

Aber die Krankenschwester ist mißtrauisch geworden und tut das, was Ärzte und Vorgesetzte von Niels H. vor Jahren schon hätten tun sollen: Sie nimmt Dieter M. Blut ab und läßt es im Labor des Krankenhauses analysieren. Ihr beherzter Kollege geht in die Klinikapotheke und stellt fest, daß fünf Ampullen Gilurytmal zu je 10 Milliliter fehlen – fünf Ampullen, von denen vier leer im Abwurfbehälter der Intensivstation liegen.

Erst jetzt schaltet das Klinikum Delmenhorst Polizei und Staatsanwaltschaft ein, obwohl seit Jahren schon die Gerüchte um Niels H. schwirren. Bereits in Oldenburg galt er als „Unglücksrabe“ und „Pechbringer“, war er merkwürdigerweise immer dann in der Nähe, wenn zuvor stabile Patienten plötzlich wegkippten und reanimiert werden mußten. Dann hatte er bei Wiederbelebungsmaßnahmen regelmäßig große Auftritte, wenn er Schwestern und sogar Ärzten zeigen konnte, wie gut er Halbtote wieder ins Leben zurückholen konnte. Halbtote, die er selber zuvor an den Rand des Todes gespritzt hatte.

Nur gelang Niels H. die Wiederbelebung nicht immer. In solchen Fällen starben die Patienten dann, was aber weder in Oldenburg noch in Delmenhorst die längste Zeit auffiel – obwohl während Niels H.s „Wirken“ die Todesfälle auf der Intensivstation in Delmenhorst“ von durchschnittlich 80 pro Jahr auf 200 stiegen.

Als Niels H.s mörderische Praktiken endlich aufgeflogen sind, passiert jedoch nicht viel. 2006 wird er vom Landgericht Oldenburg wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren Haft verurteilt – ein lächerliches Urteil, weil es damals bereits Hinweise eines Arztes gab, daß Niels H. vermutlich viel mehr Menschen auf dem Gewissen hat, was von der Staatsanwaltschaft jedoch ignoriert wurde.

Dieses Urteil wird 2006 vom Bundesgerichtshof wegen Verfahrensfehlern wieder kassiert. Es beginnt ein neues Verfahren, wieder in Oldenburg, währenddessen Niels H. die ganze Zeit auf freiem Fuß verbringt und einige Monate sogar in einem Altenheim in Wilhelmshaven beschäftigt ist, wo man angeblich nicht weiß, daß ihm Kapitalverbrechen vorgeworfen werden. In einem polizeilichen Führungszeugnis, das man auch in Wilhelmshaven verlangt haben will, werden nämlich keine gekippten Urteile, sondern nur rechtskräftige Verurteilungen dokumentiert, also galt Niels H., der damals bereits mehr als hundert Menschen getötet hatte, trotz Prozeß und Klinik-skandal rechtlich als unbescholten.

2008 wird Niels H. dann in Oldenburg zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, auch der Mord an Dieter M. soll mit diesem Urteil gesühnt werden. Aber wieder hat die Staatsanwaltschaft Oldenburg ihre Arbeit nicht richtig gemacht, denn bereits während des Prozesses kommt es durch Zeitungsberichte darüber zu Hinweisen auf Taten, von denen Polizei und Staatsanwaltschaft bislang nichts wissen.

Dritter Prozeß beginnt, Sonderkommission ermittelt

Es müssen noch einmal sechs Jahre vergehen, während derer Niels H. sich im Gefängnis Mithäftlingen gegenüber damit brüstet, daß er beim fünfzigsten Mord mit dem Zählen aufgehört habe, bis die Staatsanwaltschaft Oldenburg im Januar 2014 endlich mit neuen Ermittlungen beginnt. Und jetzt geht es Schlag auf Schlag: Im Oktober 2014 beginnt der nunmehr dritte Prozeß in Oldenburg, wieder lautet die Anklage lediglich auf dreifachen Mord und zweifachen Mordversuch, aber inzwischen treten die Angehörigen der Toten als Nebenkläger auf, und im Gerichtssaal kommen durch Zeugenaussagen immer mehr Fälle ans Licht. Im November 2014, neun Jahre nach dem Mord an Dieter M., beginnt eine 15köpfige Sonderkommission der Polizei zu ermitteln, weiß nun auch die Staatsanwaltschaft, daß es allein in Delmenhorst 174 Todesfälle gibt, die näher untersucht werden müssen.

Am 8. Januar 2015 wird dann bekannt, daß Niels H. seinem psychologischen Gutachter kurz zuvor gestanden hat, insgesamt 30 Menschen getötet zu haben; bei weiteren 60 Menschen soll er es versucht haben – aber auch diese Zahl ist vermutlich zu tief angesetzt.

Dieses Geständnis von Niels H. setzt einen vorläufigen Schlußpunkt unter eine unbegreifliche Serie von Pannen, Vertuschungen und schlichter Ignoranz. Heute ist klar: Die ganze Mordserie hätte bereits am Klinikum in Oldenburg gestoppt werden können. Heute weiß man in Oldenburg durch ein externes Gutachten, daß während der Jahre 2000 bis 2002, als Niels H. dort arbeitete, sich insgesamt zwölf Sterbefälle mit Hinweisen auf Fremdeinwirkung ereigneten. Und obwohl die Chefärzte beider Abteilungen, auf denen Niels H. arbeitete, jeweils ein schlechtes Gefühl wegen seiner Arbeit beschlich, wurde keine Untersuchung eingeleitet, sondern Niels H. mit einem Bombenzeugnis zur Kündigung bewogen und wieder in die weite Welt der Kranken und Pflegebedürftigen hinauskomplimentiert.

Mit den Referenzen aus Oldenburg hatte Niels H. keine Schwierigkeiten, am Klinikum Delmenhorst umgehend wieder eine Stelle zu finden. Und da ging es dann mit den Morden erst so richtig los. Die Nordwest-Zeitung in Oldenburg, die sich wie keine andere mit diesem Fall auseinandergesetzt hat, dokumentierte, daß 2003 und 2004, als Niels H. in Delmenhorst „wirkte“, die Sterberate auf seinen Stationen doppelt so hoch war wie in den Jahren zuvor; daß pro Jahr siebenmal soviel Gilurytmal verbraucht wurde wie davor; daß im ersten Halbjahr 2005 73 Prozent der Todesfälle auf der Intensivstation sich während der Dienstzeit von Niels H. oder kurz danach ereigneten.

Der Schriftsteller Arthur Schnitzler hat einmal geschrieben: „Bei uns muß man immer einen Dolch blitzen sehen, um zu begreifen, daß ein Mord geschieht“ – ein Satz, der wie kein anderer auf Niels H. und seine mörderische Laufbahn an deutschen Kliniken zutrifft. Niels H. ist der größte Massenmörder in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, er hat mehr Menschen umgebracht als die Terroristen der RAF, aber man hat das lange nicht ernst genommen, weil ja „nur“ alte und kranke Menschen seine Opfer waren, weil eben kein Dolch geblitzt hat und keine Gewehrkugeln durch die Luft geflogen sind.

Foto: Der wegen mehrfachen Mordes und Mordversuchs angeklagte Niels H. in Handschellen im Landgericht in Oldenburg (9. Dezember 2014)

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