© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Rehabilitiert den Nationalstaat
Michael Hüther will die europäische Integration neu denken / Eine Absage an eine politische Union
Peter Michael Seidel

Neuerscheinungen zur neuen deutschen Rolle in Europa gab es in diesem Jahr einige. Aus amerikanischer, italienischer und französischer Feder. Jetzt liegt auch aus Deutschland ein Buch zum Thema vor, das sich deutlich von herkömmlichen und verklärenden Europabüchern à la Helmut Kohl, Werner Weidenfeld und Joseph Fischer abhebt.

Dabei ist es vor allem die Absage an die These, der Nationalstaat sei in Zeiten der Globalisierung überholt, die aufhorchen läßt. Wichtig daran ist, daß der Einspruch von einem renommierten Ökonomen stammt, von Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. In seinem Buch „Die junge Nation. Deutschlands neue Rolle in Europa“ räumt er mit einer ganzen Reihe von Lebenslügen einer unaufhaltsam fortschreitenden Europäisierung auf, die täglich Brot in der EU-Politik und -Berichterstattung sind.

Hüthers Grundfeststellung lautet: Der Nationalstaat ist durch die Globalisierung keineswegs überholt, auch in der Finanz- und Eurokrise waren Nationalstaaten die Akteure, die inter- und supranationale Organisationen wie den IWF für die Troika und die EU für den Euro-Rettungsplan nach Bedarf herangezogen hätten. Vor allem hätten Globalisierung und Europäisierung die Nationalstaaten weder gleich- noch kleingeschliffen, vielmehr hätten sich diese je nach ihren unterschiedlichen kulturellen Traditionen anders und in der EU-Währungsunion sogar auseinanderentwickelt. Die Bereitschaft, voneinander zu lernen, sei kaum vorhanden – was zu weiter unterschiedlichen Entwicklungen beitrage.

Daraus leitet Hüther Folgerungen für die Entwicklung der EU ab: Zunächst erteilt er den Forderungen nach einer politischen Union für die EU eine Absage, indem er fragt, „ob die Idee einer europäischen politischen Union (...) nicht fragwürdig geworden ist“ und zu dem Ergebnis kommt, „der allfällige, nahezu eschatologische Ruf nach einer politischen Union hilft nicht weiter“. Verwundert fragt er, warum „in der offiziellen politischen Arena immer wieder das Ziel einer politischen Union propagiert“ werde. Seine Antwort: Daß sich dahinter, gerade bei linken Autoren wie Habermas „von der neomarxistischen Frankfurter Schule“, eben „das Werben für Eurobonds und eine europäische Schuldengemeinschaft verbirgt“.

Hüther will Europa und die Nationalstaaten miteinander versöhnen: „Es muß darum gehen, die Nationen in ihren Staaten für die Europäische Union zu mobilisieren, die als Holding den Kontinent durch eine historisch-kulturelle Perspektive zusammenhält und vor einer fehlgeleiteten Europäisierung bewahrt. Die Tatsache, daß Deutschland als junge Nation zu sich gefunden hat, begründet die Erwartung, dieses für Europa unentbehrliche Volk konstruktiv und führungsstark in diesen Prozeß einzubinden.“

Vorsichtig bleibt Hüther allerdings bei der Frage, was aus der EU-Währungsunion werden soll – bei einem Mann in seiner Position nicht überraschend – und spricht von der „Sackgassenlogik“ der Währungsunion: „Das führt dazu, daß der Austritt einzelner Länder allein wegen der Unkalkulierbarkeit seiner Folgen für das gesamte Währungsarrangement keine wohlfeile Option der Währungspolitik ist.“ Die Frage, was dann jenseits aller „Wohlfeilheit“, die kaum jemand behauptet, oder einer Schuldengemeinschaft noch bleibt, wenn die Problemstaaten weder lernen können noch wollen, läßt er offen.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, von denen vor allem das erste und das letzte sich direkt mit dem Thema beschäftigen, während die mittleren vier sich mit grundsätzlichen Fragen wie den Thesen Helmuth Plessners von der verspäteten Nation Deutschland oder mit dem grundsätzlichen Verhältnis von Nationalstaat und ökonomischer Globalisierung beschäftigen. Politisch spannend wird es, wenn er einen „veränderten Blick auf Deutschland und Europa“ fordert (Kapitel I), eine „De-Nationalisierung durch Globalisierung“ (Kapitel II) bestreitet oder wie in Kapitel VI über „Deutschland im Europa der Nationen“ spricht.

Die Rehabilitierung des Nationalstaates vier Jahre nach Beginn der Euro-Schuldenkrise kommt direkt aus der deutschen Wirtschaft. Ihr Pragmatismus wird deutlich, wenn Hüther es ablehnt, den Nationalstaat wie die EU auf ihre jeweiligen Übersteigerungen und Fehlentwicklungen zu reduzieren und fordert, „die europäische Perspektive durch die nationale Sichtweise zu ergänzen“. Für ein Land wie die alte Bundesrepublik, die sich oft nur noch „als Übergangsphänomen auf dem Weg in eine bessere europäische Welt“ verstand, bedeutet dies zwar noch keine Wende, aber doch die endliche Anerkennung der friedlichen Revolution von 1989 in Deutschland – 25 Jahre danach.

Gerade in seinen aktuellen Passagen ist das Buch prägnant und gelungen. Am wenigsten gilt dies jedoch für den Obertitel: Eine Nation wie die deutsche mit ihren eklatanten demographischen Problemen tatsächlich als jung zu bezeichnen geht auch dann fehl, wenn man sich dabei auf politisch-historische Prozesse bezieht. Dies zeigt sich beispielhaft, wenn die Bundesregierung wie in diesem Jahr zwanzigmal soviel in Rentner wie in Kinder und damit in Vergangenheit statt in Zukunft investiert.

Der Niedergang, auch der wirtschaftliche, ist mittelfristig absehbar. Er ist auch durch Völkerwanderungen und Einwanderungswellen nicht abwendbar. Jenseits aller hochgestochenen Visionen von Europa als „Weltmacht“ bleibt so ohne substantielle Umsteuerung vielleicht bald nur noch der Titel „multikulturelle Verlierergemeinschaft“ für Europa und auch für Deutschland.

Michael Hüther: Die junge Nation. Deutschlands neue Rolle in Europa. Murmann Verlag, Hamburg 2014, gebunden, 296 Seiten, 19,99 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen