© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Facebook und die PR-Generation
Wir Narzißten
Jost Bauch

Will man den vergesellschafteten Menschen der Moderne beschreiben, so kommt man in der soziologischen und psychologischen Literatur schnell auf das Begriffspaar der „narzißtischen Persönlichkeit“. Der Begriff „Narzißmus“ kommt aus der griechischen Mythologie und bezieht sich auf den Jüngling Narkissos, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat. Dieses mythologische Bild ist relativ exakt, denn es geht hier um (gesellschaftliche) Spiegelungseffekte. Damit ist gemeint: Der individualistische Hedonist, gerade wegen seiner gesteigerten Selbstliebe, ist auf Sozialität angewiesen, also auf ein Publikum, das ihn bewundert. Diese Bewunderung verschafft der Person dann narzißtische Befriedigung.

Narzißmus ist somit immer mehr als nur eine in sich ruhende Selbstliebe. Immanuel Kant bezeichnete diesen Mechanismus als „ungesellige Geselligkeit“: Man geht in die Gesellschaft, um egoistische Befriedigung zu erhalten. Der Narzißt muß sein grandioses Ich in der Aufmerksamkeit und Bewunderung anderer reflektiert sehen. Der Historiker Christopher Lasch stellte in seinem Ende der siebziger Jahre vielbeachteten Buch „Das Zeitalter des Narzißmus“ fest: „Ungeachtet der gelegentlichen Illusionen über seine Allmacht ist der Narzißt zur Bestätigung seiner Selbstachtung auf andere angewiesen. Ohne bewunderndes Publikum kann er nicht leben.“ Nach Lasch gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen einem Narzißten und einem „normalen“ Egoisten: „Für den Narzißten ist die Welt ein Spiegel, während der robuste Individualist in ihr nichts als eine freie Wildnis sah, die er nach seinem Willen formen wollte.“

Der moderne narzißtische Mensch braucht die Selbstinszenierung. In früheren Zeiten waren die Möglichkeiten dazu begrenzt. Nur diejenigen, die vor einem Publikum agierten, also Politiker, Publizisten, Künstler konnten und mußten sich selbst inszenieren. Der Personenkreis war beschränkt, die rezipierende Öffentlichkeit auch. Die Masse der Bevölkerung, bei der die Arbeit an einer Sache und nicht an Personen im Vordergrund stand, hatte keine Möglichkeit der gezielten Selbstinszenierung und war auf diese auch nicht angewiesen.

Mit der weiteren Entwicklung der kommunikativen Verbreitungsmedien stiegen die Möglichkeit und der Zwang zur Selbstinszenierung. Nach Georges Sorel wurde mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft die noch im Mittelalter respektierte Gewaltanwendung (ritualisiert zum Beispiel im Duell) durch die „List“ ersetzt. Listiges Verhalten macht Selbstinszenierung erforderlich. Karl Marx hat schön beschrieben, wie das Aufeinandertreffen von Käufer und Verkäufer auf dem Markt die Verstellung notwendig macht. Der Verkäufer muß so tun, als ob er die Ware eigentlich gar nicht verkaufen wolle und der Kreis der Kaufinteressenten groß sei; der Käufer muß so tun, als ob er die Ware eigentlich gar nicht benötige. Die eine Strategie erhöht den Preis, die andere drückt ihn. Die Tauschhandlung auf dem freien Markt, also die zentrale Interaktion der bürgerlichen Gesellschaft, macht gezielte Selbstinszenierung und partielle Täuschung zur Norm.

Früher waren Selbstinszenierungen und Selbstdarstellungen an direkte Interaktionen (wie beispielsweise bei der Kaufhandlung) gebunden. Interaktion ist Kommunikation unter Anwesenden. Die Simultanpräsenz von Anwesenden war Bedingung für Kommunikation. Das begrenzte zwar die Reichweite der Kommunikation, hatte aber den Vorteil, daß Kommunikation auf körperliche Präsenz der Interagierenden angewiesen war. Man konnte sich ein Bild vom Gegenüber machen: Ist es vertrauenswürdig oder nicht? Die miteinander Kommunizierenden versenden oft unbewußt Körpersignale. Das schränkte die Möglichkeiten der Selbstinszenierung ein, die körperliche Präsenz der Interagierenden lieferte neben der Selbst­inszenierung Zusatzinformationen der Glaubwürdigkeit und konfrontierte diese mit einer Einschätzung durch den Interaktionspartner.

Mit der Entwicklung der elektronischen und digitalen Massenkommunikationsmedien wird in der Moderne die Kommunikation gleichsam entkörperlicht, weil sie auf die Ko-Präsenz der Kommunikationspartner nicht mehr angewiesen ist. Das kritische Korrektiv der „Leibgebundenheit“ der Kommunikation entfällt, der Selbstinszenierung wird damit Tür und Tor geöffnet. Potentiell kann heute jeder mit jedem jederzeit kommunizieren, auf die Real-Präsenz des Kommunikationspartners ist man nicht mehr angewiesen. Nur noch einen Bruchteil der Erfahrungen gewinnt der Mensch in direkten Interaktionsbeziehungen. Interaktionen werden zunehmend zu einem gesellschaftlichen Residualbereich, allenthalben wirksam im personalen Nahraum.

Das Internet ist ein riesiger Dschungel von Fiktionen und Selbstüberbietungen. Da die Inszenierungen nunmehr massenhaft auftreten, schleift sich deren intendierte Wirkung ab. Wenn alle „Helden“ sind, dann wird das Heldentum langweiliger Alltag.

Doch auch hier dringen elektronische Medien ein – bis hin zu der grotesken Situation, daß ein Ehepaar am gleichen Kaffeetisch sitzend sich mittels Mobiltelefon verständigt. Die Grenze zwischen unmittelbarer Interaktion und Massenkommunikation verschwimmt. Hatte in früheren Zeiten jede direkte Kommunikation zwischen zwei Menschen etwas Intimes, so wird diese zunehmend öffentlich. Die Grenze zwischen Privat und Öffentlich löst sich auf. Viele junge Menschen haben keine Probleme damit, intimste Informationen ins Netz zu stellen, wahrscheinlich weil sie durch die Nutzung elektronischer Medien gar nicht mehr richtig zwischen Intim und Öffentlich unterscheiden können. Es erfolgt eine „Intimisierung der Öffentlichkeit“ und eine „Veröffentlichung der Intimität“. Die Menschen sind zunehmend gestreßt und genervt, weil die Intimität als Rückzugsraum verlorengegangen ist. Das Mobiltelefon in der Jackentasche sagt uns unerbittlich: Ich bin jederzeit erreichbar und sozial adressabel.

Erwartet wird eine kommunikative Dauerpräsenz. Man kann den öffentlichen Raum so gut wie gar nicht mehr verlassen. Deswegen wird für den modernen Menschen die dauerhafte Selbst­inszenierung so wichtig. Und so setzt er sich in Szene: Ob bei Facebook oder über eine eigene Homepage im Internet – die Selbstüberhöhung wird zur Methode. Dabei stellt man sich so dar, wie man wünscht, von der relevanten Öffentlichkeit gesehen zu werden. Es geht um „Fremdbildmanagement“. Das Alter ego soll mich so zeigen, wie ich mich sehe, wie ich also bin, wenn ich meine, mein Ich-Ideal erreicht zu haben, was selten genug der Fall ist. Jacques Attali nannte das eine „idealisierte Kopie“ des wirklichen Menschen.

Und so ist das Internet mit seinen aneinandergereihten Homepages von Personen, Firmen, Behörden, Kommunen und Organisationen ein riesiger Dschungel von Fiktionen und Selbstüberbietungen. Das Problem ist nur: Da diese Selbstinszenierungen nunmehr massenhaft auftreten, schleift sich deren intendierte Wirkung ab. Wenn alle „Helden“ sind, dann wird das Heldentum langweiliger Alltag, das Besondere ist nichts Besonderes mehr. Gleichzeitig hat die elektronische Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten auch eine negative Seite: So wie sich ohne wirkliche Kontrollmöglichkeiten des Konsumenten der Kommunikation eine Person oder Institution ins rechte Licht rücken kann, so kann diese von anderer Seite ebenso unkontrolliert in ein schlechtes Licht gerückt werden. Der Gefährte der Selbstüberhöhung ist die Denunziation! Dabei wird es immer schwieriger, sich in Szene zu setzen, ohne gefährliche Fremdbeobachtungen zu provozieren. Mit kommunikativen Kollateralschäden muß man jederzeit rechnen.

Wir werden von einer Informationsflut regelrecht erschlagen. Nur der kann sich heute orientieren, der Informationen abwehrt. Nicht die Erlangung von Information, vielmehr deren Selektion wird zunehmend zum Zeichen von Intelligenz.

Die Selbstinszenierung veralltäglicht, sie wird zu einer zweiten Haut, die man nicht abstreifen kann und darf. Früher waren Selbstinszenierungen an besondere Anlässe gebunden: Man putzte sich heraus und legte ein gepflegtes Verhalten an den Tag, um dann beim Verlassen der Szene die inszenierte Rolle wieder abzulegen, um ohne Drapierung man selbst sein zu können. Der Zwang der Selbstinszenierung durch kommunikative Dauerpräsenz führt dann auch dazu, daß viele Menschen glauben, ihr selbstinszeniertes Ich sei ihr wahres Ich. Sie verlieren das, was der Soziologe als „Rollendistanz“ bezeichnet. Eine gekünstelte Affektkontrolle wird universell, Originale, Charaktertypen werden zur Ausnahme, weil überall der geschmeidige, kommunikationssensible und überangepaßte Sozialtypus vorherrscht.

Die grenzenlose Öffnung der Kommunikationsräume hat weitreichende kulturelle Folgen. Waren früher Informationen ein knappes Gut, so wird man heute, ob man will oder nicht, von einer Informationsflut regelrecht erschlagen. Nur der kann sich heute orientieren, der Informationen abwehrt. Nicht die Erlangung von Information, vielmehr deren Selektion wird zunehmend zum Zeichen von Intelligenz. Wer die Informations- und Bilderflut nicht abwehren kann, wird desorientiert und in letzter Konsequenz psychisch krank. Der Zwang zur Selbstinszenierung wirkt da als Beschleuniger: Das selbstinszenierte Ego kann auf permanente Informationsbeschaffung nicht verzichten. Gesellschaftliche Trends zu verpassen und nicht entsprechend zu reagieren, ist für das „Image-Building“ tödlich.

Offensichtlich tappt der Mensch in eine anthropologische Falle: Der Mensch als umweltoffenes Wesen ist auf Informationsbeschaffung angewiesen, das liegt gleichsam in seinen Genen; auf Informationsüberflutung und Informationsabwehr ist er biologisch nicht eingerichtet. Gleichzeitig verschwimmt die Grenze zwischen Information und Mitteilung. Die Information kann so banal sein wie sie will, sie wird zur Mitteilung (wird also kommuniziert), weil es so leicht ist, erhaltene Informationen qua Kommunikation weiterzureichen. Als Informationen (die als Mitteilung wert sind, an andere weitergegeben zu werden) gelten heute „Ereignisse“ oder Sachverhalte, die früher als Information nur randständig wahrgenommen wurden und erst recht nicht als Mitteilung in den Äther gepustet wurden. Daß der linke Zeh juckt, ist heute eine Nachricht wert. Das Problem: Die Mitteilung dieser Banalität bindet (knappe) Aufmerksamkeit des gewählten Rezipienten, zumindest muß er diese Nachricht wegdrücken, was die Wahrnehmung dieser Nachricht erforderlich macht.

Wurde früher genau überlegt, welche eigene Information es wert ist, kommuniziert zu werden, weil die Kommunikationskanäle beschränkt waren, so wird heute jede psychische Irritation zu einem kommunikativen Auftritt. Denken und Sprechen verschmelzen. Der moderne Narzißt ist der Meinung, daß (fast) alles, was er gedacht hat, wert ist, weil er es gedacht hat, der Umwelt mitgeteilt zu werden. Es erfolgt eine vulgäre Psychisierung des Kommunikationsverhaltens.

Eng verbunden damit ist der Trend zur Entschriftlichung unserer Gesellschaft. Die einst in Blüte stehende Briefkultur – man denke an die filigranen Briefe der Großeltern – erlag dem schnellen Telefonat. Wir sind, wie Niklas Luhmann schrieb, wieder auf dem Weg in eine „digitale Oralität“. Zusätzlich zerfällt die Kunstform einer Schriftsprache, die sich deutlich vom gesprochenen Wort abhebt. Dort, wo mittels elektronischer Medien noch geschrieben wird (per E-Mail oder Facebook), wird meist so geschrieben, wie man spricht. Es ist verbale Kommunikation in schriftlicher Form.

Ist die Schriftsprache in Abgrenzung zur gesprochenen Sprache in Gefahr, ist eine Sprache insgesamt gefährdet. Das Hochdeutsche insgesamt hätte sich nicht ohne die (schriftliche) Bibelübersetzung Martin Luthers entwickeln können. Die Schriftsprache ist sehr viel differenzierter, exakter und facettenreicher als das gesprochene Wort, sie diffundiert gleichsam in die verbale Kommunikation als Sprech-Erzieher. Das geschriebene Wort ist in die Welt gesetzt, es beansprucht unabhängig von der vordergründigen Motivation des Schreibenden über den Moment des Verfassens hinaus Geltung, das geschriebene Wort ist Selbstfestlegung mit Langzeitwirkung. Wie Luhmann schreibt, ist Schrift „ein Verzicht auf das segensreiche Sofort-wieder-Verschwinden des gesprochenen Wortes, also ein Verzicht auf die Leichtigkeit des Vergessens“. Selbstfestlegungen mit Langzeitwirkung sind im Zeitalter der entfesselten Kommunikation hinderlich, die Schriftsprache erscheint veraltet wie die altgermanische Keilschrift.

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den US-Abhörskandal („Freunde, die keine sind“, JF 47/13).

Foto: Modellierung des Ich via Smartphone: Eine idealisierte Kopie des wirklichen Menschen

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