© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

„Wir hätten gewarnt sein können“
Die Attentate von Paris haben Europa überrascht. Kein Wunder, meint der französische Kriminologe und Europol-Berater Xavier Raufer, denn unsere Sicherheitsbehörden hängen falschen Vorstellungen an – und verkennen dadurch die neue islamistische Gefahr
Moritz Schwarz

Herr Professor Raufer, löst die Pariser Großdemonstration vom Sonntag die Probleme?

Raufer: Ich bitte Sie! Auch wenn positiv ist, daß die Franzosen zusammenhalten, mit dem Marsch beeindrucken wir vor allem uns selbst – aber keine Terroristen.

Die Medien nennen ihn „historisch“, einen „Wendepunkt“, gar einen „Urknall“.

Raufer: Tatsächlich ist der Marsch bereits zum politischen Spielzeug verkommen: Bei den Sozialisten heißt es nun, er habe Hollande gestärkt und zeige, daß man im Hinblick auf seine Kandidatur für die nächste Wahl keine Vorwahlen in der Partei mehr brauche. Soviel zum Thema Instrumentalisierung.

Beziehen sich islamistische Terroristen überhaupt auf uns Europäer oder nicht vielmehr auf die Moslems weltweit? Sprich, fühlen sie sich tatsächlich isoliert, wenn wir gegen sie demonstrieren?

Raufer: Nein, das läßt die kalt. Für sie ist der Westen der Satan, und wenn Millionen hier gegen sie auf die Straße gehen, dann sind das einfach Millionen Teufel. Auch in den USA gab es nach dem 11. September 2001 eine Großdemonstration – an der terroristischen Bedrohung hat das nicht das geringste geändert. Das ist alles nur Politik.

Sie warnen: Wir verkennen die neue Generation islamistischer Terroristen.

Raufer: Eindeutig! Unsere Sicherheitsbehörden stellen sich diese nach wie vor als tief religiöse Überzeugungstäter vor.

Und das ist ein Irrtum?

Raufer: Ein Irrtum, der die Charlie-Hebdo-Tragödie erst möglich gemacht hat.

Inwiefern?

Raufer: In Europa gehen wir immer noch vom Bin-Laden-Typ aus. Das heißt, die Behörden halten vor allem Ausschau nach intelligenten, gebildeten, aber fanatisch Religiösen, die versuchen, große Terrorpläne zu schmieden. Diese Generation von Dschihadisten aber ist tot.

Tot?

Raufer: Ja, denn die Zahl dieser Generation ist nicht unbegrenzt. Und Tausende von ihnen wurden bei Anti-Terror-Einsätzen ausgelöscht. Allein im Gebiet Afghanistan und Nordpakistan wurden in den letzten Jahren 3.000 durch Drohnen getötet. Die Überlebenden sitzen schachmatt in ihren Verstecken, aus Angst, ebenfalls getötet zu werden.

Also war der „Krieg gegen den Terror“ doch ein Erfolg?

Raufer: Ja, und zwar in dem Moment, als die USA mit dem Unsinn aufgehört haben, ihn mit Panzern, Geschützen, Infanterie und Bombern zu führen und auf Spezialkommandos und Drohnen gesetzt haben, um diese Leute gezielt zu eliminieren. Die Invasionen dagegen, etwa im Irak, waren dumm.

Und womit haben wir es heute zu tun?

Raufer: Nicht mehr mit Terrorfürsten, sondern mit Terrorgesindel: Kleinkriminellen und Narren, die sich als Gotteskrieger aufspielen.

Aber die Täter von Paris sollen seit Jahren vom islamistischen Prediger Farid Benyettou radikalisiert worden sein.

Raufer: Die Gebrüder Kouachi, die Charlie Hebdo überfallen haben, waren keine Söhne der wahhabitischen Elite, sondern ehemalige Kleinkriminelle, ebenso wie Amedy Coulibaly, der eine Polizistin und vier Geiseln in einem jüdischen Supermarkt erschoß. Unsere Analysen sagen, daß alle französischen Islamisten, die in den letzten drei Jahren Attentate verübt haben, verwilderte Persönlichkeiten waren: Mehdi Nemmouche etwa, der 2014 zwei Besucher und zwei Angestellte des Jüdischen Museum in Brüssel erschoß und in Marseille verhaftet wurde, erwies sich als geistig zurückgeblieben – er hat die intellektuelle Kapazität eines Zwölfjährigen. Mohammed Merah, der 2012 Frankreich in Atem hielt, als er in Anschlägen in Toulouse und Montauban drei Soldaten, drei Kinder und einen jüdischen Lehrer ermordete, hatte zwei Selbstmordversuche hinter sich. Er war völlig instabil, tanzte abends in der Diskothek, trank Alkohol und betete am nächsten Tag in der Moschee. Nicht viel anders etwa beim Attentäter von Joué-lès-Tours.

Im Dezember 2014 attackierte in Joué-lès-Tours ein Mann Polizisten mit einem Messer, ein weiterer fuhr in Dijon 13 Passanten an, und ein dritter raste in Nantes mit dem Auto in eine Menschenmenge. Alle drei sollen „Allahu Akbar!“ gerufen haben. Zuvor hatten Afrikaner in Créteil eine Frau vergewaltigt, weil sie Jüdin ist.

Raufer: In Dijon war der Täter ein Kleinkrimineller mit Drogenproblemen und Psychose, in Nantes war er, völlig unislamisch, erheblich alkoholisiert. Alles keine „edlen“, strenggläubigen Gotteskrieger, wie sie unsere Sicherheitsbehörden suchen. Tatsächlich sind sämtliche Dschihadisten, die in Frankreich seit 2012 aktiv geworden sind, Drogenkonsumenten oder ehemalige Gangster.

Man hätte also gewarnt sein können?

Raufer: Natürlich hätten wir gewarnt sein können. Der Anschlag auf Charlie Hebdo erfolgte nach dem Muster der Taten seit 2012. Ich gebe zu, auch mich haben Härte und Ausmaß überrascht – 17 Tote in drei Tagen! Aber im Grunde waren die genannten Fälle Warnzeichen – wenn man sie nur hätte sehen wollen.

Kritiker sagen, das sei nicht geschehen, da man sich weigerte, sie als islamistisch einzustufen?

Raufer: Weil die Regierung der Fehldiagnose anhängt, die islamistische Gefahr gehe von den Syrien-Heimkehrern aus.

Ist das falsch?

Raufer: Unsere Behörden haben 76 Personen festgestellt, die aus den Kämpfen in Syrien und Irak zurückgekommen sind. Ausnahmslos alle sind zutiefst erschrocken, ja geradezu traumatisiert angesichts dessen, was sie dort erlebt haben. Sie bitten unsere Behörden regelrecht, sie wieder einreisen zu lassen, selbst wenn sie ins Gefängnis müßten. Der Grund: Sie haben dort nicht den heiligen, brüderlichen Krieg für Allah erlebt, den sie sich vorgestellt haben, sondern allerschlimmste Greuel, bei denen nicht mal Schwangere und Kleinkinder geschont werden.

Warum warnt dann der deutsche Innenminister ständig vor Syrien-Heimkehreren?

Raufer: Warum tut es der französische? Weil sie auf Nummer Sicher gehen wollen. Passiert doch etwas und sie haben nicht gewarnt, können sie einpacken. Vor allem aber, weil sie einer falschen Diagnose anhängen! Denn tatsächlich bleiben diejenigen, die mit der unvorstellbaren Gewalt in Irak und Syrien klarkommen, dort, da sie Karriere machen können. Zurück kommen dagegen die, die es nicht aushalten, weil sie auf die geradezu prähistorische Barbarei dort – so berichten es uns unsere Quellen – nicht gefaßt waren. Zurück in Frankreich wollen diese Leute keinen Dschihad führen, sondern verstecken sich unter ihren Betten.

Aber diese Informationen stehen den Sicherheitsbehörden doch auch zur Verfügung.

Raufer: Und, haben sie sie genutzt? Schauen wir nochmal auf die islamistischen Attentate der letzten Jahre in Frankreich: Wie viele wurden von Syrien-Heimkehrern verübt? Keines. Wer hat statt dessen tatsächlich gemordet? Voilà! Die Gefahr geht von den Islamisten in unseren Vorstädten aus, von den Leuten, die direkt vor unserer Nase sitzen! So war es auch im Fall Charlie Hebdo.

Einer der Kouachi-Brüder soll immerhin eine Ausbildung in einem Al-Qaida-Lager im Jemen absolviert haben.

Raufer: Diese Hypothese haben US-Medien aufgebracht, sind aber jeden Beweis schuldig geblieben. Der US-Justizminister dagegen bestätigt, es gebe keine verläßlichen Informationen, nach denen Said und Chérif Kouachi oder Amedy Coulibaly zu einer bekannten Terrororganisation gehört haben.

In einem vor seinem Tod aufgenommenen Video bekennt sich Coulibaly zum Islamischen Staat.

Raufer: Natürlich, jeder kann zu Hause so ein Video aufnehmen, um sich so an etwas anzuhängen. Ganz sicher wollten die Attentäter von Paris nicht wie kleine Idioten dastehen, sondern ihr Tun in einen größeren Zusammenhang stellen, auf daß es dadurch Bedeutung erlange. Ich glaube auch, daß die Brüder Kouachi in den Irak wollten, aber sie waren eben nicht dort. Mohammed Merah und Mehdi Nemmouche wollten das auch, aber man hat sie dort nicht angenommen. Offenbar weil man dort erkannt hat, daß sie nicht zu gebrauchen waren. Wenn Said Kouachi tatsächlich im Jemen gewesen sein sollte, dann war er offenbar nicht gut genug, um anschließend irgendwo eingesetzt zu werden. Statt dessen wurde er dann wieder heimgeschickt.

Allerdings haben erst islamistische Prediger aus Kleinkriminellen, wie Sie sagen, islamische Terroristen gemacht. Welche Rolle spielt also der Islam?

Raufer: Ich bin kein Experte für den Islam, daher kann ich dazu nichts sagen.

Aber als Experte für islamistischen Terror müssen Sie doch eine Vorstellung davon haben, welche Rolle dieser Faktor spielt?

Raufer: Dennoch will ich dazu nichts sagen, da ich eben kein Islamexperte bin.

Es gibt auch nichtislamische Desorientierte und Kriminelle in unseren Gesellschaften. Dennoch geht von ihnen kein vergleichbares Terrorproblem aus.

Raufer: Nur soviel: Der Islamismus ist zweifellos keine Religion, sondern ein Kult, der seinen Einfluß ausübt.

Wenn Sie den Faktor Islam nicht kalkulieren, ist das Problem für Sie dann ein soziales, wie es etwa in Deutschland interpretiert wird? Sprich, mit Willkommenskultur, Antidiskriminierung und sozialen Leistungen können wir den Terror besiegen?

Raufer: Das ist Unsinn. Denn es sind so wenige Täter, daß es immer welche geben wird, auch wenn es gelingen sollte, 99 Prozent der Muslime zu integrieren.

Was illusorisch ist – nicht mal 99 Prozent der deutschen Bevölkerung sind integriert.

Raufer: Eben, und deshalb liegt die Lösung auch nicht im sozialen, sondern im kriminalistischen Bereich. Freilich ist da eine Lösung unmöglich, wenn Sicherheitsfragen der Political Correctness unterworfen werden. Etwa wenn die Überwachung von Verdächtigen, die nun mal zumeist Araber sind, als „Racial Profiling“ verunglimpft wird, die Polizei sich also Rassismus-Vorwürfen gegenübersieht, weil sie ihre Arbeit macht – oder vielleicht gar ihre Arbeit nicht macht, weil sie solche Vorwürfe fürchtet.

Wenn die neue Terroristengeneration aus unseren Vorstädten kommt, ist folglich die Einwanderung die Ursache?

Raufer: Natürlich sind auf gar keinen Fall alle Einwanderer terrorverdächtig. Aber alle französischen Terroristen seit 2012 kamen in der Tat aus Einwandererfamilien. Wer das verneint, verneint die Realität. Wer etwa die Kosten für die teure Aids-Behandlung zur Hälfte auf Prostituierte und zur Hälfte auf Nonnen umlegt, der verfehlt das Problem. Und davor sollten wir uns hüten.

Was droht uns in Zukunft?

Raufer: Wir stehen auf keinen Fall vor einer islamistischen Apokalypse, wie einige glauben. In 25 von 28 EU-Staaten gab es in den letzten fünf Jahren nicht einen islamistischen Anschlag. Und 2013 – die Zahlen für 2014 stehen noch nicht zur Verfügung – gab es sieben islamistische Anschläge auf 500 Millionen Europäer. Das ist kriminalistisch gesehen nichts. Gleichwohl können wir uns keinesfalls entspannen. Wir lassen viel zu viele islamistisch gesonnene Leute unkontrolliert herumlaufen, die bereit und in der Lage sind, sich eine Waffe zu besorgen und auf einen Schlag 17 Menschen zu erschießen. Wenn wir nicht endlich etwas Grundlegendes ändern, werden wir das Problem nicht in den Griff bekommen.

 

Prof. Dr. Xavier Raufer, ist Leiter des Instituts für Kriminologie an der Universität Paris II und Dozent an Universitäten in Großbritannien und China sowie Leitender Redakteur bei „CNRS Edition“, dem Verlag des französischen Nationalrates für wissenschaftliche Forschung. Seine publizistische Karriere begann der 1946 geborene „einflußreiche Kriminologe“ (Newsweek) als Journalist bei L‘Express, dem ältesten und auflagenstärksten französischen Nachrichtenmagazin, wo er auch als Kolumnist tätig war. Außerdem schrieb er für Le Figaro und France Soir. Er beriet einige konservative Politiker und trat mehrfach in Rundfunk und Fernsehen auf. Zu den Themen Terrorismus, soziale Gewalt, Kriminalität und Islamismus veröffentlichte er zahlreiche Bücher; etwa den Studienband „Violences et insécurité urbaines“ („Urbane Gewalt und Unsicherheit“) der Presses Universitaires de France, den er von 1998 bis 2003 betreute. Inzwischen ist er unter anderem auch Berater der europäischen Polizeibehörde Europol in Den Haag.

Foto: Französische Spezialpolizisten patrouillieren am Tag nach der Tat vor dem Pariser Supermarkt, in dem Amedy Coulibaly, der Komplize der „Charlie Hebdo“-Attentäter, vier Geiseln tötete: „Die Gefahr geht von den Islamisten in unseren Vorstädten aus“

 

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