© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/15 / 09. Januar 2015

Nebenwirkungen bei der Nahrungsaufnahme
Neue Forschungen zum alten Diskurs über die Chemisierung unserer Lebensmittel / Beispiel Krebsprävention
Christoph Keller

Wenn auf etwas Verlaß ist, dann auf den nächsten Lebensmittelskandal. Und auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die solche Attacken auf die Gesundheit oder sogar das Leben von Millionen Menschen finden. Wenn dabei jedesmal auch die Verantwortlichkeit der Behörden auf dem Prüfstand steht, ist evident, daß Nahrungsproduktion und Nahrungsaufnahme alles andere als Privatsache sind. Und zwar in Deutschland schon lange nicht mehr, denn das Nahrungsmittelgesetz gibt es seit 1879.

Das Datum ist kein Zufall: Das Kontrollbedürfnis erwachte, als die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion begann. Nicht nur die Herstellung von Nahrungsmitteln, auch ihre Verteilung paßte sich Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend dem Massenkonsum an. Grundlage dieser Umwälzungen in Produktion, Distribution und Konsumption waren chemisch-synthetische Stoffe und Verfahren, die Lebensmittel haltbarer machten, sie geschmacklich veränderten oder einfach nur appetitlicher aussehen ließen. Die Auflistung solcher „Zusatzstoffe“, Konservierungs-, Farb- und Geschmacksstoffe, Süßstoffe und Prozessierungsstoffe (Emulgatoren), füllte 100 Jahre nach Inkrafttreten des Lebensmittelgesetzes ein dickes Buch, und es ist seitdem nicht dünner geworden.

Mit der Einführung erster Zusatzstoffe um 1900 hob sogleich die Debatte um die von ihnen ausgehenden gesundheitlichen Gefahren an. Wie der Braunschweiger Wissenschaftshistoriker Heiko Stoff in einer Studie über die staatliche Risiko- und Regulierungspolitik am Beispiel der Lebensmittelzusatzstoffe ausführt (Technikgeschichte, 3/2014), war bereits in den dreißiger Jahren jene Vorstellung vom allgegenwärtigen „Gift in der Nahrung“ und von der kontaminierten, den „reinen Körper“ bedrohenden Umwelt im Bewußtsein breiter Schichten etabliert, die bis heute unser Alltagsempfinden als Verbraucher bestimmt.

IG Farben hat Produktion von Buttergelb eingestellt

Generationen von Lebensmittelchemikern, Toxikologen und Pharmakologen hätten fleißig daran gearbeitet, Essen und Trinken als Risiko erscheinen zu lassen und so den zivilisationskritisch aufgeladenen Umgang mit der „Chemisierung“ der „natürlichen“ Nahrung beeinflußt. Eine angststeigernde Rolle spielte für die öffentliche Wahrnehmung und die „biopolitische Befassung“ die Verzahnung zweier Bedrohungsszenarien: chemische Zusatzstoffe und Krebs.

Da die Medizin zwischen 1930 und 1960 die Krebs­entstehung mit chronischer Reizung durch chemische Substanzen erklärte, Krebsforschung also toxikologisch und pharmakologisch konditioniert war, ergab sich die gesundheitspolitische Brisanz des Themas Lebensmittelzusatzstoffe von selbst. Zudem bestätigten 1937 Rattenexperimente den lange gehegten Verdacht, daß der Farbstoff p-Dimethylaminoazobenzol – bekannt als „Buttergelb“, da er Margarine und Butter färbte – krebserregend sei. Auf Drängen von Frauenverbänden und des Reichsgesundheitsamtes stellte IG Farben daher 1939 seine „Buttergelb“-Produktion ein. Die populäre Vorstellung, die moderne Ersetzung naturgegebener durch chemisch bearbeitete Lebensmittel erhöhe die konstitutionelle Krebsdisposition, sei mächtiger gewesen als die Interessen des damals weltgrößten Chemiekonzerns.

Bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges war dieser Konnex zwischen Krebs und Ernährung in der Medizin fest institutionalisiert. Er galt als hinreichend abgesichert aufgrund des Dosis-Zeit-Wirkungsgesetzes, das der Pharmakologe Hermann Druckrey und der Elektrophysiker Karl Küpfmüller während ihres Zwangsaufenthalts im Internierungslager Hammelburg aufstellten und 1949 publizierten. Nach ihrer neuen, mathematisch objektivierten onkologischen Theorie ergebe sich die kanzerogene Wirkung von Substanzen wie Buttergelb als Resultat aus Konzentration und Zeitdauer. Die krebserregende Wirkung von Zusatzstoffen bleibe darum selbst bei kleinsten Dosen auf Lebenszeit irreversibel und summiere sich mit der Wirkung späterer Gaben – „bis sich nach Überschreiten der kritischen Gesamtdosis Geschwülste bilden“. Für die spätere Bundesfamilienministerin Käte Strobl (SPD) sei diese Summationstheorie des einstigen SS-Arztes Druckrey 1958 das Hauptargument für eine scharfe Novellierung des Lebensmittelgesetzes gewesen.

Als Werkzeug für Druckreys gesundheitspolitische Interventionen diente der 1948 unter der Ägide des Physikers Werner Heisenberg gegründete Deutsche Forschungsrat, der unter dem Biochemiker Adolf Butenandt als Unterorgan seiner Politikberatung eine „Kommission zur Bearbeitung des Problems der krebsfördernden Wirkung von Farbstoffen in Lebensmitteln“ einrichtete. Hier war Druckrey von Beginn an aktiv, 1953 übernahm er von Butenandt den Vorsitz der „Farbstoff-Kommission“. Da seine Summationsthese mit der Wirkung minimaler Dosen rechnete, so daß sie keine Sicherheitsgrenzen festlegen konnte und empfehlen mußte, jede Substanz „eingehend, ausdauernd und mehrfach“ zu prüfen, folgte aus ihr konsequent eine so rigide wie puristische Politik der Risikovermeidung. Bei prekären Stoffen setzte Druckrey auf pharmakologisch und lebensmittelchemisch streng kontrollierte Krebsprävention statt auf Krebstherapie.

Deutschland setzte auf Krebsvermeidung

Obwohl es ihm gelang, seine Theorie im europäischen Rahmen zu implementieren und 1955 sogar Einfluß auf die Erstellung von Qualitätsstandards der gemeinsamen Expertenkommission für Nahrungszusatzstoffe von der WHO zu nehmen, war der Zenit dieses deutschen Sonderwegs in der Krebs- und Farbstoffpolitik um 1960 überschritten. Er scheiterte an den „Reibungsflächen“ in den internationalen Handelsbeziehungen, die sich nicht dadurch beseitigen ließen, daß man dem Ausland die hohen deutschen Standards oktroyierte. Das ökonomische Gebot, Restriktionen dürften nicht zukünftige Entwicklungen und Forschungsfortschritte etwa bei den Konservierungsstoffen verhindern, ersetzte international die Strategie der Risikovermeidung durch die Politik der Risikokalkulation. Risiken sollten fortan eingegangen und lediglich gegen ernährungspolitische und ökonomische Vorteile abgewogen werden. Eine Konstellation, die als Grundsatzkonflikt wiederkehrt in den aktuellen Verhandlungen zwischen der EU und den USA über das transatlantische Freihandelsabkommen.

Foto: Der Farbstoff „Buttergelb“ wegen seiner krebserregenden Wirkung 1939 aus dem Verkehr gezogen: Der Grundkonflikt, Risiko völlig zu vermeiden oder lediglich abzuwägen, spiegelt sich auch heute in den Debatten um Freihandelsabkommen wider.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen