© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/15 / 09. Januar 2015

Aufstand der Reichen gegen die Armen
Zum Auftakt der deutschen Debatte über Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“
Dirk Glaser

Gewöhnlich sind unter Wissenschaftlern ausgetragene Podiumsdiskussionen keine Publikumsmagneten. Darum staunten die Veranstalter nicht schlecht, als am 7. November 2014 reichlich 2.500 Besucher ins Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ drängten, die neugierig waren auf einen Vortrag des französischen Ökonomen Thomas Piketty und auf die sich daran anschließende Disputation über die Zukunft des Kapitalismus (Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2014).

Anlaß der alle Erwartungen übertreffenden Resonanz des Ereignisses war das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Pikettys magistralem Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Mit ungeheurer Wucht ist der 800seitige, mit Datenkolonnen und Statistiken gepanzerte Wälzer in die mathematisierte Welt der angelsächsischen Wirtschaftswissenschaften eingeschlagen und hat als vielgepriesene „Fortsetzung“ von Karl Marx’ „Das Kapital“ weit über den akademischen Elfenbeinturm hinaus Furore gemacht.

Die Berliner Piketty-Präsentation klärte zunächst über den wahren, welthistorisch eher provinziellen Stellenwert der kleindeutschen „Wiedervereinigung“ auf, deren 25. Jahrestag zwei Tage später offiziell gefeiert wurde. Der deutsche 9. November 1989 erschien dem Pariser Gelehrten nur als relativ belangloses Unterkapitel der jüngsten Kapitalismusgeschichte. Als Zäsur sei die Implosion der Sowjetunion mitsamt ihren Folgen in den kollabierenden „Bruderstaaten“ allein deshalb bemerkenswert, weil das Ende des kommunistischen Experiments eine „Periode maßloser Marktgläubigkeit eröffnete“, die bis heute anhalte.

Wirtschaftswachstum hält mit den Renditen nicht mit

Auch die Finanzkrise von 2008 habe den euphorischen Glauben an die Selbstregulierung der Märkte allenfalls gedämpft. Symbolisiert durch die Öffnung der Berliner Mauer, verschwand die „Gegenwart einer Drohung“, die Systemkonkurrenz des „Klassenfeindes“. Insofern sei es kein Zufall, so sekundierte auf dem Podium die US-Politologin Susan Neiman, daß sich „der Neoliberalismus nach dem Mauerfall rasant verbreitet hat“.

Als „Ungleichheitsmaschine“ konnte der Kapitalismus also 1989 wieder da anknüpfen, wo er 1914 kriegsbedingt hatte aufhören müssen. Denn, so lautet Pikettys zentrale These, unter normalen, halbwegs friedlichen Bedingungen der modernen industriellen Revolution generierte das kapitalistische System ein Maximum an sozialer Ungleichheit. Und zwar deshalb, weil das Wirtschaftswachstum nicht mit den Renditen aus Immobilien-, Finanz- und Industriekapital Schritt hielt.

Entwickelt ist diese These aus Quellen, die Piketty aus einem ertragreichen internationalen Forschungsprogramm zuflossen, das in zwanzig Ländern Archive nach Erbschaftsakten und Einkommenssteuererklärungen durchforstete. Für Frankreich ergab das auch den Forscher verblüffende Resultat, daß 1914 dieselbe Konzentration der Vermögen nachzuweisen ist wie am Vorabend der Revolution von 1789. Einem Prozent der Bevölkerung gehörte immer noch siebzig Prozent des Volksvermögens. Die große Mehrheit der Franzosen, siebzig Prozent, verfügte 1914 bei ihrem Tod gerade über genug persönliche Habe, um die Beerdigungskosten zu bezahlen. Genau so wie „Père Goriot“, in Balzacs gleichnamigem, um 1820 angesiedelten Roman.

Zwei Weltkriege, Inflationen, die Weltwirtschaftskrise von 1929 sowie Lenins Revolution, die eine sozialistische Gegenmacht etablierte, verlangsamten seit 1945 das Tempo der kapitalistischen Ungleichheitsmaschine. Der Abstand zwischen Wachstum und Renditen verringerte sich zugunsten des Mittelstands. Franzosen erinnern diese Periode als „les trente glorieuses“ (1945–1975), die Westdeutschen als „Wirtschaftswunder“. Historisch kündigte sich das Ende dieser wohlfahrtsstaatlichen Ära in Europa mit dem „Thatcherismus“, in den USA mit den „Reagonomics“ an, pünktlich zu einer Zeit, als die sowjetische Systemkonkurrenz erodierte.

Pikettys bis ins 18. Jahrhundert zurückgehendes „Big Data über die Superreichen“, schreibt, wie der Marburger Soziologie Rainer Rilling bereits im November-Heft der Blätter hervorhebt, darum nicht nur eine lückenlose „Geschichte der Ungleichheit“, sondern belegt auch, daß Ausnahmen aufgrund seltener Umstände wie im „Zeitalter der Extreme“ nicht mit „systemischer Normalität“ zu verwechseln seien. Denn Ungleichheit ist kein, wie die „Märchenerzähler“ unter den US-Ökonomen der 1950er glauben machen wollten, auf die Entstehungsphase, die wilde „Manchester“-Epoche begrenzter Systemfehler, der bei wachsendem Massenwohlstand bald behoben sein werde. Vielmehr sei Ungleichheit konstitutiv für kapitalistisches Wirtschaften, so daß das von den „Märchenonkeln“ unter dem Druck des Kalten Krieges versprochene „Happy End“ im „permanenten Aufstand der Reichen gegen die Armen“ nie eintrete.

Worauf stattdessen der „Normalbetrieb“ zulaufe, lasse sich am „Präzedenzfall Vereinigte Staaten“ studieren. Zwischen 1978 und 2013 vergrößerte sich das eine Prozent der reichsten US-Amerikaner („Top 1“) von 25 auf 40 Prozent, während die „middle rich“ (Top 10 bis Top 1) von 45 auf 35 Prozent schrumpften. Nach aktuellen, von Rilling zitierten Untersuchungen zogen während der „großen Krise“ unter Barack Obama (2009–2012) die Top-Eins-Haushalte 95 Prozent des gesamten Vermögenszuwachses an sich. Selbst während der Bush-Präsidentschaft waren es 75, unter Bill Clinton sogar „nur“ 47 Prozent. Ungestört vom medialen Rauschen über die fällige „Regulierung“ der Finanzmärkte setzte sich damit die sagenhafte Vermögensvermehrung in den USA und in Europa vor allem in Großbritannien ungehemmt fort. Rein theoretisch, so Piketty, könnten 2050 einige wenige Megareiche „das komplette weltweite Vermögen besitzen“.

Die dramatischen Konsequenzen sind transatlantisch seit langem in der Verschlechterung des allgemeinen Wohlstandes und, von der Infrastruktur bis zur Bildung, im Abbau des öffentlichen Sektors zu spüren. Die „destabilisierende Kraft“ der Ungleichheitsmaschine untergrabe inzwischen die Fundamente der demokratischen Gesellschaften, deren Legitimität in dem Maß schwinde, wie sie das Gleichheitsversprechen nicht erfüllten.

Die Finanzmärkte sind kaum mehr zu bändigen

Thomas Piketty ist nicht Karl Marx. Er will das System nicht abschaffen, sondern nur den „plutokratischen Extremismus“ bekämpfen, den heute selbst neoklassische Ökonomen als Krisenursache und Wachstumsbremse wahrnehmen. Radikale Eingriffe in Eigentums- und Machtverhältnisse hält Piketty gleichwohl für unumgänglich. Voraussetzung dafür sei eine Renaissance des starken, per Steuergesetzgebung umverteilenden Staates. Gleichzeitig warnt er jedoch vor dem „Risiko der Renationalisierung“, die nur den Euro „hinwegfege“.

Was ihm bleibt, sind vage Hoffnungen auf die EU, die demnächst im Freihandelsabkommen mit den USA ihren Willen zu „fortschrittlicher Politik“ beweisen könne. Insgesamt sehen Pikettys Perspektiven hingegen düster aus, weil er vor allem den Eliten in Paris und Berlin den politischen Willen zur Umkehr nicht mehr zutraut. Und in Washington und London sei der Zug ohnehin abgefahren, weil man dort die Finanzmärkte nicht mehr bändigen könne, denn sie seien nach der angelsächsischen Deindustrialisierung die einzigen Wirtschaftszweige, die noch für Wachstum sorgen.

Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2014, gebunden, 816 Seiten, 29,95 Euro

Foto: Obdachlose in der Nähe von Marble Arch in London: Seit langem eine Verschlechterung des Wohlstands

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