© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/15 / 09. Januar 2015

Der Beginn einer Vernichtungsorgie
Vor siebzig Jahren begann mit der sowjetischen Großoffensive die schreckliche Odyssee der Deutschen in den Ostprovinzen des Reiches
Oliver Busch

Verglichen mit den von angloamerikanischen Bomberflotten verheerten Stadtlandschaften West- und Mitteldeutschlands hatte der Zweite Weltkrieg für den Osten des Deutschen Reiches bis zum Jahreswechsel 1944/45 kaum stattgefunden. Allein Königsbergs Innenstadt sah nach zwei Nachtangriffen der Royal Air Force Ende August 1944 so aus wie die ausgebrannten Zentren von Köln, Leipzig oder Hamburg. Gleichwohl galten die Provinzen jenseits der Oder selbst noch in der Spätphase des Krieges als „Reichsluftschutzkeller“.

Den Krieg als Alltagserfahrung erlebten Ostdeutsche hingegen erst im Oktober 1944 als Truppen der Roten Armee zwischen Memel und Gumbinnen einen Teil Ostpreußens eroberten. Die Gefahr schien jedoch Anfang November nach einer Gegenoffensive der Wehrmacht schon wieder gebannt. Allerdings fanden sich im wiedererorberten Nemmersdorf und anderen Ortschaften Ostpreußens schreckliche Beweise, die eine völkerrechtswidrige Kriegführung der Sowjets gegen die Zivilbevölkerung offenbarten (JF 43/14). Nur der größte Teil des Memellandes und ein schmaler Streifen im östlichen Grenzgebiet blieben in russischer Hand.

Das Weihnachtsfest 1944, das letzte „zu Hause“, wie noch heute viele Ostdeutsche sagen, verlief daher beinahe „wie im Frieden“. Zusätzliche Beruhigung vermittelte die Ardennenoffensive (JF 51/14). Konnte es im Osten doch so schlimm nicht stehen, wenn „der Führer“ die nach fünf Kriegsjahren verbliebene militärische Macht nicht an der Weichsel konzentrierte, sondern gegen Stalins angelsächsische Bündnispartner im Westen einsetzte.

Hitler unterschätzte die Rote Armee beharrlich

In der Tat gab und gibt diese Entscheidung Adolf Hitlers Historikern ebenso Rätsel auf wie die Weigerung, die isolierte Kurland-Armee über See abzutransportieren, um mit ihr die Weichselfront zu festigen. Es ist nicht auszuschließen, daß Hitler Sowjetrußland, ungeachtet aller Niederlagen seit Stalingrad, weiterhin beharrlich unterschätzte. Im Einklang vor allem mit den meisten Bewohnern Ostpreußens, die in Erinnerung an den glänzenden Sieg in der Schlacht von Tannenberg, den Hindenburg gegen die zaristischen Invasoren 1914 erfocht, abermals hofften, standhalten und die Heimat behaupten zu können.

Wie aus vielen amtlichen Berichten bekannt ist, die über Haltung und Stimmung in der Grenzprovinz informieren, wurzelte dieses Wunschdenken nicht zuletzt im Selbstbewußtsein der Soldaten, das nach dem Abwehrerfolg im Raum Gumbinnen nur zu gerechtfertigt erschien.

Daß es sich dabei um schieren Illusionismus handelte, wußte Anfang Januar 1945 nur die militärische Führung. Dem Generalstab des Heeres lagen die, wie sich herausstellen sollte, zutreffenden Einschätzungen der Feindaufklärung vor, denen zufolge das Kräfteverhältnis zwischen den Verteidigern der Ostfront und den russischen Angreifern bei der Infanterie eins zu elf, bei den Panzern eins zu sieben und bei der Artillerie eins zu zwanzig lag. Eine Luftwaffe, die diesen Namen verdiente, gab es auf deutscher Seite nicht mehr. Was sich auf dem Territorium Polens in Gestalt von sechs sowjetischen „Fronten“, Heeresgruppen, zusammenballte, war also keineswegs der von Hitler so bezeichnete „größte Bluff seit Dschingis Khan“.

Am 12. Januar 1945 begann die 1. Weißrussische Front zwischen Warschau und Radom ihren Vorstoß Richtung Berlin. Schnell war die deutsche Front auf einer Breite von 150 Kilometern aufgerissen, und nur drei Wochen später erreichten die Sowjets Frankfurt an der Oder. An dem nebligen Wintermorgen des 13. Januar folgte der Großangriff der 2. Weißrussischen Front unter Marschall Rokossowski mit ihren sechs Armeen und fünf Panzerkorps Richtung Elbing sowie nördlich anschließend der Vormarsch der 3. Weißrussischen Front und der 1. Baltischen Front gegen die Heeresgruppe Mitte, die mit der 2. und 4. Armee sowie der 3. Panzerarmee Ost- und Westpreußen schützen sollte.

Bis zum 24. Januar, als Rokossowskis Truppen Elbing besetzten, war Stalins Auftrag ausgeführt, Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet abzutrennen. Am 27. Januar schloß sich der Belagerungsring um Königsberg. Memel mußte nach glücklicher Evakuierung der Verteidiger am 28. Januar preisgegeben werden. Die Ostpreußens Norden verteidigende 3. Panzerarmee zog sich auf die Halbinsel Samland zurück, die 4. Armee hielt sich im Kessel von Heiligenbeil noch bis Ende März 1945 und deckte den Süden der „Festung Königsberg“.

Trotz der erdrückenden Überlegenheit an Menschen und Material erwies sich der unerwartet rasche sowjetische Vormarsch von der Weichsel zur Oder nicht als Spaziergang. Allein die in der „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ heroisierte „Ostpreußische Operation“ kostete bis zur Kapitulation der letzten deutschen Einheiten auf der Frischen Nehrung, am 9. Mai 1945, fast 460.000 Tote und Verwundete, die Hälfte des Personalbestandes der am 13. Januar angetretenen Armeen.

Ob der Widerstand im abgeschnittenen Ostpreußen wie an der südlichen und nördlichen Flanke der 1. Weißrussischen Front, in Schlesien und Hinterpommern, das von deutschen Zeithistorikern gern verteilte Prädikat „sinnlos“ verdient, darüber darf man gewiß diskutieren angesichts der Hitler fehlenden Option, den Krieg politisch beenden zu können. Unstreitig ist jedoch, daß die Flankenbedrohung den Ende Januar 1945 immerhin möglichen sowjetischen Vorstoß über die Oder hinweg nach Berlin und Mitteldeutschland hinein verhinderte.

Ebenso unbestreitbar sinnvoll, wenn auch heute zumeist aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, war die zähe Verteidigung Ostdeutschlands, weil sie die Flucht und Evakuierung der Zivilbevölkerung deckte. Sowjetsoldaten blickten bereits am 2. Februar 1945 vom rechten Oderufer aus auf Schwedt, scheiterten aber bei dem Versuch, von Ostbrandenburg nach Stettin auszugreifen. So blieben die Oderbrücken in deutscher Hand, über die sich Anfang März das Gros der Flüchtlinge aus den Landkreisen Hinterpommerns rettete. Von ähnlicher Bedeutung war die Behauptung der Häfen in Danzig, Gotenhafen und Hela sowie der erst Ende April 1945 aufgegebene Marinestützpunkt Pillau.

Abwehrkampf ermöglichte die Flucht von Millionen

Was einige Millionen Ostdeutsche, die auf diese Weise nach Mitteldeutschland oder über die Ostsee nach Schleswig-Holstein gelangten, erwartet hätte, darüber sind sich nur die Verfechter der These vom „sinnlosen“ oder „verbrecherischen“ Kampf der „Hitler-Wehrmacht“ im unklaren. Im Unterschied zu einem unverdächtigen Zeitzeugen wie Heinrich Graf von Einsiedel, der zusammen mit einigen Mitstreitern des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ im Januar 1945 als Frontpropagandist die in Ostpreußen einfallende Roten Armee begleitete. Sie hatten den Untergang der Provinz im „Hunnensturm“ mitgemacht und gesehen wie sowjetische Soldateska Städte und Dörfer niederbrannte. „Sie sahen sie Gefangene und Zivilisten erschießen, Frauen vergewaltigen und Lazarette mit dem Kolben in ein Totenhaus verwandeln. Sie haben eine Vernichtungsorgie erlebt, wie sie noch kein zivilisierter Landstrich über sich hat ergehen lassen müssen. Nur wenige können die Tränen zurückhalten, wenn sie hiervon erzählen. Ich habe immer Angst vor dem Tage gehabt, an dem die Rote Armee kämpfend deutschen Boden betreten würde. Aber was sich hier abgespielt hat, übersteigt alles, was ich in meinen pessimistischen Stunden für möglich gehalten habe.“

Wer in der Heimat zurückblieb oder auf der Flucht in die Gewalt der Sowjets geriet, kam selten unversehrt davon. Das Bundesarchiv, so referiert Manfred Zeidler in seiner leider wenig bekannten Monographie über „Das Kriegsende im Osten“ (1996), schätzt die Zahl der unmittelbar beim Einmarsch Ermordeten auf mindestens 90.000 bis 100.000 Tote. Basis dafür bilden die hochgerechneten Daten aus 455 ostpreußischen und 432 pommerschen Landgemeinden.

Ein Rache-Motiv galt für die wenigsten Rotarmisten

Insgesamt lassen sich aus der Ostdokumentation des Bundesarchivs 3.300 ostdeutsche „Tatorte“ ermitteln. Die kaum erst begonnene Auswertung der in russischen Archiven verwahrten Millionen von Feldpostbriefen aus der Feder der „Täter“ dürfte die ihren bundesdeutschen Apologeten liebste Schutzbehauptung von der „Rache“ für Untaten von Wehrmacht und SS entkräften. Wenige bisher bekannte Stichproben lassen dieses Resultat vermuten. So kämpften in einem Regiment der 11. Gardearmee, die Kriegsverbrechen im Raum Insterburg beging, gerade einmal 158 Soldaten, magere sechs Prozent, bei denen ein Rachemotiv zu unterstellen ist, weil sie unter nahen Angehörigen Opfer durch Tötung und Quälereien während der deutschen Besatzungszeit in der Sowjet-union zu beklagen hatten.

Foto: Überstürzte Flucht einer ostpreußischen Familie im Januar 1945: Das Bundesarchiv schätzt die Zahl der unmittelbar beim Einmarsch der Roten Armee ermordeten Ostdeutschen auf 90.000 bis 100.000

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