© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Familienleben am Maidan
Andrej Kurkows ukrainisches Tagebuch
Sebastian Hennig

Der Schriftsteller Andrej Kurkow wurde 1961 in Rußland geboren. Mit seiner Frau und drei Kindern wohnt er nahe dem Maidan-Platz in Kiew und hat die Unruhen dort miterlebt. Sein belletristisches Werk lebt von einer humoristischen Verfremdung der Wirklichkeit. Am heimischen Computer erreicht ihn der Aufruf, sich warm angezogen zum Protest auf dem nahen Platz einzufinden. Dazu kann er sich nicht aufraffen.

Aber er unterbricht die Arbeit am Roman und konzentriert sich auf sein „Ukrainisches Tagebuch“. Dieses beginnt wie eine alte Chronik mit dem Absturz eines Kometen über Sewastopol, der „russischsten aller ukrainischen Städte“. Kurkow steht durch seine Herkunft zwischen den Lagern. Als ethnischer Russe in der Ukraine grenzt er sich von den imperialistisch empfindenden Rußländern ab.

Er ist ein stiller Beobachter, für den das Tagebuch keine Kunstform darstellt. Von der Möglichkeit, die Nachrichten zu einer Selbstaussage des Ereignisses zu gestalten, macht er keinen Gebrauch. Oft sind es gerade die Beiläufigkeiten, welche die Erkenntnis befördern. Dazu ist der Scharfsinn des Diaristen gefragt.

Kurkows Aufzeichnungen wirken wie der Lektürebericht eines Zeitungslesers. Dennoch finden sich sarkastische Anmerkungen, die den verbreiteten Vorstellungen widersprechen: „Ein leicht unangenehmer Nachgeschmack bleibt indes auch, wenn ich mir die Anführer der Proteste ansehe. Einer von ihnen, Olexandr Danyljuk, hat illegal die Grenze übertreten und ist in London wieder aufgetaucht. Ich wußte gar nicht, daß wir irgendwo auch ein Stück gemeinsame Grenze mit Großbritannien haben.“

Das „Ukrainische Tagebuch“ ist die Beglaubigung des Geschehens durch einen Augenzeugen, der freilich seine Augen nicht überall haben konnte. Der Vorzug des Buches ist die Chronologie der Vorgänge zwischen November 2013 und April 2014. Sehr hilfreich ist ein fast vierzigseitiges Glossarium „Zur Orientierung“. Es enthält zum Teil kleine monographische Aufsätze, die über Anmerkungen weit hinausgehen. Das beginnt alphabetisch mit Erläuterungen zu Aspen Ukraine und dem ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera. Die Bedeutung Sewastopols für Rußland wird ebenso beleuchtet wie der tragikomische Werdegang des Viktor Juschtschenko.

Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. Haymon Verlag, Innsbruck 2014, broschiert, 280 Seiten,17,90 Euro

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