© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Überrascht vom Glück des Moments
Der Weihnachtsfrieden von 1914 zwischen den Gräben der feindlichen Soldaten an der Westfront hat sich bis heute im kollektiven Gedächtnis erhalten
Karlheinz Weissmann

Der Spot für das Weihnachtsgeschäft, den die britische Supermarktkette Sainsbury’s in diesem Jahr produzieren ließ, hat für Diskussionen gesorgt. Denn die kurze Filmsequenz zeigt einen britischen Soldaten in der Uniform des Ersten Weltkriegs – Jim –, der einem deutschen Soldaten – Otto – ein Päckchen Schokolade schenkt. Im Hintergrund hört man die Briten „Silent Night“ intonieren und die Deutschen „Stille Nacht“, und die Frage, der sich die Unternehmensführung stellen mußte, lautete, ob man die Erinnerung an den Weihnachtsfrieden von 1914 nutzen dürfe, um Geschäfte zu machen. Sainsbury’s war rasch mit der Antwort zur Stelle, daß der Erlös für den Verkauf der Schokolade an die Royal British League und die Familien von Veteranen gehe, und damit war die Sache erledigt. Jedenfalls insofern, als es keinen Skandal gab, nur einen weiteren Beweis dafür, wie tief „Christmas Truce“ im britischen Kollektivgedächtnis verankert ist.

Unter dem Begriff versteht man jene spontane Waffenruhe, die an einigen Abschnitten der Westfront, vor allem in Flandern, am 24. Dezember 1914 „von unten“ ausgerufen wurde. Beteiligt waren auch belgische und französische Einheiten, aber in erster Linie Deutsche und Briten. Die Initiative ging offenbar von deutscher Seite aus, was sich auch aus der Tatsache erklärt, daß hier englische Sprachkenntnisse verbreiteter waren als deutsche Sprachkenntnisse unter Briten. Folgt man den zeitgenössischen Berichten, fing alles damit an, daß die Deutschen Weihnachtslieder sangen und ihre Gegner in Rufweite aufforderten, nicht zu schießen. Danach sangen die Briten und man begann Laternen, Kerzen und kleine Christbäume auf die Grabenränder zu setzen.

Offenbar stellten die Soldaten aus eigenem Entschluß oder auf Befehl ihrer direkten Vorgesetzten das Feuer ein. Manchmal wurde die Absicht dem Gegner aber auch förmlich mitgeteilt, dann trafen sich die Feinde zwischen den Stellungen. Einige Kilometer südlich von Ypern, bei dem Dorf Ploegsteert, hörten die Briten zu ihrer Überraschung ein Kornett, das die Deutschen zu „Home Sweet Home“, „God Save the King“ und „Tipperary“ begleitete. Am nächsten Tag kam man im Niemandsland zusammen, versicherte, daß nicht geschossen werde, unterhielt sich radebrechend, aß gemeinsam, tauschte Adressen und Uniformknöpfe gegen Büchsenfleisch, türkischen gegen Virginiatabak.

Große Aufmerksamkeit in der britischen Presse

An einem anderen Teil der Front rollten sächsische Grenadiere zwei Fässer Bier als Weihnachtsgabe auf die britischen Stellungen zu, wo sie dankbar in Empfang genommen wurden. Nahe dem französischen Dorf Fromelles stellte man das Feuer ein, damit die Männer der Gordon Highlanders ihre Toten bergen konnten, und im Anschluß fand ein Gottesdienst statt. Es wurde Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“ auf englisch und deutsch gesprochen, die Soldaten beider Seiten waren unter Führung ihrer Offiziere angetreten und hörten barhäuptig zu.

Am berühmtesten wurden aber die Fußballspiele zwischen den Linien, etwa das von Frelinghien-Houplines, über das schon während des Krieges die Times berichtete. Tore gab es nicht, offenbar auch keine Schiedsrichter, was den Enthusiasmus der „Mannschaften“ aber keineswegs dämpfte, die den friedlichen Wettstreit dem kriegerischen wenigstens für diesen Augenblick vorziehen durften.

Während die Vorgänge in der britischen Presse große Aufmerksamkeit fanden, wurde die Berichterstattung in Deutschland unterdrückt. Aber was geschehen war, sprach sich herum und wurde Teil der Erinnerung und jener Art mündlicher Überlieferung, die man „oral history“ nennt. Dazu haben auch die Bilder beigetragen, die britische und deutsche Soldaten im Moment der Begegnung festhielten, von den Mühen des Kampfes und der Erschöpfung gezeichnet, aber auch überrascht vom Glück des Moments.

J. Selby Grigg, ein Gemeiner der London Rifle Brigade, berichtete später: „Ich frischte mein eingerostetes Deutsch auf und unterhielt mich mit einigen von ihnen. Keiner von ihnen schien irgendeine persönliche Feindschaft gegen England zu hegen, und alle sagten, daß sie froh wären, wenn der Krieg vorbei sei.“ Dann fügte er noch hinzu, daß sein Freund R. W. Turner eine Kamera dabeihatte und Aufnahmen von den Ereignissen machte. Diese und ähnliche Fotos haben ganz wesentlich dazu beigetragen, daß der „Weihnachtsfriede“ von 1914 Spuren hinterließ, nie vollständig an Bedeutung verlor und immer wieder aufgegriffen werden konnte, von Paul McCartney für sein Musikvideo „Pipes of Peace“ (1983), für den erfolgreichen Spielfilm „Merry Christmas – Frohe Weihnachten“ (2005) oder den erwähnten Werbespot.

Daß die Ereignisse dabei in ein sentimentales Licht gerückt werden, ist so unvermeidbar wie die Vorstellung, der Weihnachtsfriede sei ein Indiz dafür, daß der einfache Mann im Grunde nicht kämpfen wollte, sondern von den Mächtigen in den großen Krieg gehetzt wurde, oder daß im Verhalten der Soldaten nicht konkrete Friedenssehnsucht, sondern pazifistische Weltanschauung zum Tragen gekommen sei.

Davon kann aber keine Rede sein. Nirgends ein Indiz, daß die kurze Waffenruhe, die in manchen Fällen noch bis zum 26. Dezember dauerte, zu Befehlsverweigerungen oder Meutereien geführt hat. Und selbstverständlich wurde der Weihnachtsfriede nicht von allen geachtet. Ein britischer Offizier vermerkte in seinem Tagebuch Anfang Januar 1915 ungerührt: „Alle möglichen Geschichten wurden erzählt über die Begegnung des Feindes mit englischen Truppen zwischen den Schützengräben. Zum Glück haben die Truppen, die unsere direkten Schützengrabenlinien verteidigten, einfach abgewartet, bis die Deutschen aus ihren Gräben herauskamen und es ihnen dann gegeben, schnelles Feuer; das hat all diesem Blödsinn der gegenseitigen kleinen Freundschaftsdienste ein Ende gesetzt.“

Nach 1914 dominierten Zermürbung und Erbitterung

Die Vorgänge der Weihnachtstage hatten keine Konsequenzen, obwohl das Fraternisieren mit dem Feind zu allen Zeiten als schweres Vergehen betrachtet wurde. Allerdings haben die deutsche wie die britische Führung im Fall der Wiederholung Kriegsgerichtsverfahren angedroht. Daß dem ersten Ereignis von 1914 im Dezember 1915 kein zweiter Weihnachtsfrieden folgte, hatte aber vor allem mit den wachsenden Verlustzahlen, der Zermürbung und Erbitterung der Soldaten zu tun.

Im Jahr zuvor mußten die Deutschen nur die Hoffnung begraben, Silvester auf den Champs Elysées zu feiern, und kein Brite dachte länger, daß der Krieg „ein Picknick zu Pferde bei perfektem Wetter“ (Siegfried Sassoon) sei, aber der Frieden und seine Selbstverständlichkeiten waren noch nicht vollständig vergessen, die Reserven an Humanität noch nicht so aufgezehrt wie in der Folgezeit.

Man hat die Ereignisse vom 24. Dezember 1914 deshalb auch als ein letztes Aufflackern des christlichen Geistes in diesem Kampf bezeichnet. Vielleicht nicht ganz zu Recht. Im Dezember 1915 erlebte der Unteroffizier Richard Schirrmann, ein vierzigjähriger Lehrer, der sich bei Kriegsbeginn freiwillig gemeldet hatte, in den Vogesen, wie Deutsche und Franzosen in aufgegebenen Grabenabschnitten zusammenkamen, wo sie Wein, Cognac und Zigaretten gegen westfälisches Schwarzbrot, Biskuits und Schinken tauschten und einander versicherten, daß sie keinen persönlichen Groll hegten und keine größere Sehnsucht als den Frieden hätten.

Damals faßte Schirrmann den Plan, Begegnungsstätten für junge Menschen zu schaffen, wo sie sich unter besseren Bedingungen kennenlernen sollten. 1919 gründete er das Deutsche als Keimzelle des Internationalen Jugendherbergswerks.

Foto: Szene aus dem Spielfilm „Merry Christmas“ (2005) über den Weihnachtsfrieden 1914 im Niemandsland: Man aß gemeinsam, tauschte Adressen und Uniformknöpfe gegen Büchsenfleisch, türkischen gegen Virginiatabak

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