© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Gefangen geblieben
Nachruf auf den Publizisten Ralph Giordano
Thorsten Hinz

Um dem Publizisten und Schriftsteller Ralph Giordano gerecht zu werden, der 91jährig in Köln verstorben ist, muß man in seine Kindheit und Jugend zurückgehen. 1923 als Sohn einer assimilierten Jüdin und eines Sizilianers in Hamburg geboren, galt er im Hunde- und Pferdezüchterjargon der NS-Machthaber als „Halbjude“ oder „Mischling“. In seinem autobiographischen Roman „Die Bertinis“ von 1982 kann man nachlesen, was es bedeutete, aus einer wohlsituierten Familie zu stammen und plötzlich stigmatisiert und isoliert zu sein. Und dabei blieb es nicht! Es folgten Gestapo-Verhöre, Mißhandlungen, die Relegation vom Gymnasium. Als der Mutter die Deportation drohte, tauchte die Familie unter und überlebte in einem Kellerversteck. Giordano hatte allen Grund, sich am 8. Mai 1945 befreit zu fühlen – befreit von Todesangst. Wer das überstanden hat, wird nie wieder ganz heimisch im eigenen Land und bleibt ein Gefangener der Vergangenheit.

Er beschäftigte sich mit der NS-Vergangenheit

Giordano versuchte auszubrechen, indem er Mitglied der 1956 verbotenen KPD wurde und für kurze Zeit in die DDR übersiedelte. Rasch erkannte er seinen Irrtum und rechnete in dem 1961 erschienenen Buch „Die Partei hat immer recht“ mit ihm ab. In der Bundesrepublik arbeitete er als Journalist und beschäftigte sich mit der NS-Vergangenheit. Durch den „Bertini“-Roman und seine Verfilmung für das ZDF wurde er zu einer öffentlichen Figur. Er fand seine Rolle als Vergangenheitsbewältiger und Mahner vor der „Gefahr von rechts“. Seine 1987 in Buchform ausgebreitete These von einer „zweiten“, der „Nachkriegsschuld“ der Deutschen hält einer Überprüfung zwar nicht stand, wurde aber zustimmend aufgenommen und viel zitiert.

Tatsächlich war Giordano ein Gefangener seiner Traumata geblieben. Bis ins hohe Alter eine elegante, auf sympathische Weise auch eitle Erscheinung, pochte er auf seine Zuständigkeit in politischen und gesellschaftlichen Fragen und fuhr, indem er am deutschen Schuldkomplex werkelte, den Mehrwert seiner Opferbiographie ein. Längst im Einklang mit dem Zeitgeist, nannte er sich dennoch einen „Leitwolf der Gegenseite“.

In seinen letzten Jahren begann er einzusehen, daß er sich verrannt und der falschen Gefahr entgegengezittert hatte. Eindringlich warnte er vor der Landnahme durch den Islam. Offenbar ängstigte ihn die Vorstellung, daß dieses Deutschland, das er doch liebte, im Verschwinden begriffen war.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen