© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

„Den Stempel aufgedrückt“
Ist Deutschland die „Heimat der Weihnacht“? Haben die Deutschen Weihnachten gar erfunden? Nein, sagt der US-Historiker Joe Perry, doch fast könnte man es glauben, denn sie haben Weihnachten geprägt und ihre Version des Festes erfolgreich in alle Welt exportiert.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Perry, haben die Deutschen Weihnachten erfunden?

Perry: Oh, das geht wohl etwas weit.

Das fragt immerhin das „Times Literary Supplement“.

Perry: Zweifellos haben die Deutschen unser „modernes“ Weihnachtsfest im 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt – aber erfunden haben sie es nicht.

Der US-Publizist Eric T. Hansen meint in einem Gastbeitrag für die „Zeit“ sogar: „Weihnachten ist pures Germanentum“

Perry: Das ist eine journalistische Übertreibung. Dennoch ist da auch etwas dran – vorausgesetzt er meint mit „Germanentum“ Deutschsein. Offiziell als Feiertag eingeführt wurde Weihnachten vom römischen Kaiser Konstantin dem Großen. Doch wir sprechen hier über die Erneuerung, die Weihnachten im 19. Jahrhundert erfahren hat, als es als bürgerliches Familienfest sozusagen neu begründet wurde. Dieses erneuerte Weihnachtsfest haben die Deutschen zwar nicht geschaffen, ihm wohl aber maßgeblich ihren Stempel aufgedrückt.

Wer hat es dann „erfunden“?

Perry: Erfunden – wenn man das Wort verwenden will – hat es eine westeuropäische, protestantische Bürgerkultur, wie sie auch in Deutschland existiert hat – aber eben nicht nur hier.

Wie kommt es dann zu der offenbar bis nach Amerika verbreiteten Ansicht von der deutschen Urheberschaft?

Perry: Zum einen ist es einfach eine populäre Übertreibung, die – zum anderen – auf der bedeutenden Rolle fußt, die Deutschland für die Entstehung des modernen Weihnachtsfestes hat. In den 1830er und 1840er Jahren etwa bereisten christliche Bildungs- und Lebensreformer aus den USA die deutschen Länder und waren sehr angetan von der deutschen Weihnacht. Zurück in der Heimat verbreiteten diese Progressiven ihre deutschen Weihnachtseindrücke in Amerika.

Es ist auffällig, wie viele Weihnachtsbräuche aus Deutschland kommen. Woran liegt das?

Perry: Das ist tatsächlich auffällig. Entweder sie kommen wirklich aus Deutschland oder sie sind vor allem in Deutschland populär geworden und haben sich dann von hier aus in alle Welt verbreitet. Weihnachtsbaum, Weihnachtsmann, der typische Weihnachtsschmuck mit Sternen, Kugeln und Holzspielzeug für den Baum, die spezielle weihnachtliche Illumination, bis hin zur populären Weihnachtsmusik. All das wurde vor allem aus Deutschland in die Welt exportiert. Der Weihnachtsbaum etwa soll mit dem deutschstämmigen britischen Königshaus aus Hannover in den englischsprachigen Raum gekommen sein. Und den Weihnachtsmann – auch wenn dieser nicht eigentlich aus Deutschland stammt – haben die Briten als „Father Christmas“, die Amerikaner als „Santa Claus“ ursprünglich dem deutschen Weihnachtsmann nachgeformt. Allerdings ist die US-Version dann maßgeblich vom holländischen „Sinterklaas“ und vom amerikanischen Coca-Cola-Weihnachtsmann überformt worden. In den USA finden Sie Fachgeschäfte für Weihnachtsdekoration, die ganze Verkaufsräume voller deutschem Weihnachtsschmuck präsentieren. Weihnachtsmärkte finden Sie in den Vereinigten Staaten wenn überhaupt, dann als Nachahmung ihrer deutschen Vorbilder. Und „Silent Night“ – also „Stille Nacht, heilige Nacht“ – gilt auch in den USA als das klassische Weihnachtslied, und gerne wird hierzulande auch „O Tannenbaum“ gesungen, und zwar oft in der ersten Zeile mit dem deutschen Titel – statt „O Christmas Tree“, wie es in der englischen Übersetzung heißt.

Das alles erzeugt aber doch das Bild, Weihnachten sei tatsächlich ein deutsches Fest.

Perry: Eben das ist der Irrtum – zu dem allerdings nicht erst Sie sich haben hinreißen lassen. Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet sich diese Vorstellung weltweit und hält sich teilweise bis heute.

Warum?

Perry: Vor allem sind es die Deutschen, die diesen Anspruch gerne erheben. Nicht immer behaupten sie gleich die Urheberschaft, aber doch gerne, daß die deutsche Weihnacht die wahre Weihnacht sei, weil inniger als anderswo.

Die Deutschen fühlen sich Weihnachten besonders nahe?

Perry: Ja, im 19. Jahrhundert entsteht die Vorstellung von Deutschland als der „Heimat der Weihnacht“. Ich sehe dahinter die romantische und gefühlvolle Tradition in Deutschland, die zu dieser besonderen Identifikation der Deutschen mit Weihnachten geführt hat. Sie veranlaßt die Deutschen des 19. Jahrhunderts, Gefühlslagen, die sie als typisch deutsch betrachten – wie Geborgenheit, Geselligkeit, Gemütlichkeit oder Innigkeit –, in Weihnachten wiederzuerkennen und es daher als „ihr“ Fest zu identifizieren. Übrigens, ab den 1860er Jahren kreierten deutschsprachige Theologen, Historiker, Volkskundler und Ethnographen eine deutsche Vergangenheit für etliche Feiertagsbräuche, die den Anschein der historischen Wahrheit erhielt, als in „wissenschaftlichen“ Publikationen darüber geschrieben wurde. Manche Autoren der Zeit meinten, daß Weihnachten in Deutschland weiter zurückreiche als anderswo, nämlich in die vorchristliche Zeit, wo es schon von den Germanen als Wintersonnenwende gefeiert wurde und sich später mit dem Christentum verbunden habe.

Das trifft doch auch für andere Länder zu.

Perry: Eben, im Römischen Reich wird etwa das Sol-Invictus-Fest mit dem christlichen Weihnachtsfest verbunden. Es ist also eine deutsche Projektion. Entscheidend ist aber nicht, daß die historische Exklusivität der deutschen Weihnacht gar nicht zutrifft, sondern daß viele Deutsche daran glaubten. Es drückt aus, daß die Deutschen der damaligen Zeit ihre angeblich besondere Beziehung zu Weihnachten irgendwie untermauern wollten.

Eine besondere Beziehung, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt?

Perry: Ich persönlich habe ernsthafte Zweifel, daran zu glauben, die Deutschen wären in der Lage, Weihnachten innerlicher zu empfinden als andere Menschen. Gleichwohl, dadurch daß viele Deutsche daran geglaubt haben, avancierte Weihnachten in Deutschland zumindest zeitweilig zu einem Fest mit höherer Bedeutung als in anderen Ländern.

Also so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?

Perry: So könnte man es vielleicht sagen.

Aber wenn Begriffe wie Geselligkeit, Gemütlichkeit, Geborgenheit oder Innigkeit – für die es ja angeblich im Englischen keine treffende Übersetzung geben soll – tatsächlich typisch deutsch sind, dann drückt Weihnachten – bei dem es ja genau darum geht – vielleicht tatsächlich eine spezifisch deutsche Gefühlslage aus?

Perry: Ich wiederhole: Ich halte die Behauptung, die Deutschen könnten Weihnachten aufgrund der Gefühlslage ihres Nationalcharakters authentischer empfinden als andere, für ein Klischee. Aber Ihre Fragestellung wiederholt sehr schön die klassische Argumentation. Und nicht nur deutsche, auch ausländische Beobachter haben um 1900 so argumentiert. Briten und Amerikaner hätten angeblich eher einen materiellen Bezug zu Weihnachten, für sie stünde „Joy“ und „Happiness“ – also die äußerliche Freude und Fröhlichkeit – im Mittelpunkt, ausgedrückt durch das Feiern und das gegenseitige Beschenken. Für die Deutschen dagegen stünde die seelische Gefühligkeit, die Innerlichkeit der christlich-familiären Tradition des Weihnachtsfests im Vordergrund. Tatsächlich aber steht hinter dieser Projektion wohl der Wunsch, Weihnachten zum nationalen Fest der Deutschen zu stilisieren, weil man im 19. Jahrhundert bemüht war, eine gemeinsame nationale Tradition zu finden, mittels der sich die Deutschen zu einer Nation vereinen konnten – in einer Zeit, als es nämlich noch keinen deutschen Nationalstaat gab, beziehungsweise dieser nach 1871 noch sehr jung war. Aber auch wenn es sich also nur um eine nationale Projektion gehandelt hat, so war dieser Mythos – gemeinsam mit dem weltweiten Export der deutschen Weihnachtsbräuche – immerhin so erfolgreich, sich selbst und andere von der Vorstellung, Weihnachten sei ein deutsches Fest, zumindest teilweise zu überzeugen.

Warum ausgerechnet die deutschen Weihnachtsbräuche so erfolgreich sind, haben Sie allerdings immer noch nicht erklärt.

Perry: Wahrscheinlich kann Ihnen das niemand wirklich erklären. Jede Nation hat ihren besonderen Weihnachtsritus. Die Briten etwa haben den Jullog, ein dekoriertes Holzscheit, das an Heiligabend im Kamin verbrannt wird, oder den Plumpudding, eine typische Weihnachtsspeise. Aber im Gegensatz zum deutschen Weihnachtsbaum oder dem deutschen Nußknacker haben diese britischen Weihnachtsutensilien offenbar nicht das Zeug dazu, sich weltweit zu verbreiten. Der Erfolg etwa des Weihnachtsbaums zeigt sich ja gerade darin, daß die Leute gar nicht mehr wissen, daß es eigentlich ein deutscher Brauch ist, während bei Plumpudding immer noch jeder an Großbritannien denkt. Manche Dinge finden einfach global Gefallen, andere bleiben auf ihren Kulturraum beschränkt. Symbolisch dafür ist vielleicht die Geschichte der Weihnachtsverbrüderung an der Westfront 1914 im Ersten Weltkrieg. Demnach sollen die deutschen Soldaten in ihren Stellungen Weihnachtsbäume mit Kerzen aufgestellt und „Stille Nacht, heilige Nacht“ gesungen haben. Die Briten auf der anderen Seite sollen davon so fasziniert gewesen sein, daß es schließlich für ein paar Tage zur Verbrüderung über den Schützengräben gekommen sein soll. Ob die Geschichte nun in dieser Version stimmt oder nicht – sie zeigt, welche Strahlkraft den deutschen Weihnachtsbräuchen zugerechnet wurde.

Ist Weihnachten heute noch deutsch?

Perry: Ich zitiere eine Expertin, die mir einmal sagte: Erst gaben die Deutschen den Amerikanern Weihnachten, dann gaben die Amerikaner es an die Deutschen zurück.

In der Tat sieht Weihnachten in Deutschland – vor allem im urbanen Raum – immer mehr aus wie in den USA.

Perry: Das ist die globale Konsumentenkultur des 21. Jahrhunderts, die regionale Unterschiede immer weiter einebnet. Dennoch würde ich sagen, daß – obwohl in der Tat Weihnachten in Deutschland immer amerikanischer wird – es doch noch sehr deutsch ist. Und die Kritik, Weihnachten sei nicht mehr so wie früher, gibt es seit jeher. Sie läßt sich auch in Deutschland über Jahrhunderte nachweisen. Immer wieder geht es darum, daß das Materielle Weihnachten korrumpiere. Schon deutsche Romantiker klagten über die überbordende deutsche Weihnachtskultur – die wir heute als die traditionelle deutsche Weihnacht empfinden –, sie verrate die Schönheit der weihnachtlichen Volkstradition, die die Menschen in Deutschland friedvoll zusammenbrachte.

 

Dr. Joe Perry, ist Lehrstuhlinhaber für moderne deutsche und europäische Geschichte an der Georgia State Universtiy in Atlanta. 2010 veröffentlichte er die ebenso „exzellente“ wie „akribische“ (Times Literary Supplement) Studie „Christmas in Germany. A Cultural History“ – die aber bislang leider nicht auf deutsch erschienen ist. Außerdem publizierte er etliche Fachartikel zum Thema. Geboren wurde der Historiker 1959 in Moskau/Idaho.

Foto: Weihnachtsmarkt in Erfurt: „Der Wunsch, Weihnachten zum nationalen Fest der Deutschen zu machen … eine gemeinsame Tradition zu finden, um die Deutschen zur Nation zu vereinen“

 

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