© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Material im Baumarkt und Rezepturen im Netz
Chemische Sprengstoffe und Terrorismus: Laboranten produzieren mit wenig Aufwand Höllenmaschinen
Bernd Ewers

Täglich gehen bei der deutschen Polizei zwanzig Bombendrohungen ein. Etwa 7.000 pro Jahr. Es hat sich eben seit langem herumgesprochen, daß die Sicherheitsbehörden jeden Anruf ernst nehmen müssen, weil die Tat so einfach zu realisieren ist.

Wie einfach, das beschreibt der emeritierte Bremer Chemieprofessor Dieter Wöhrle in einem umfangreichen Aufsatz über „Rolle und Bedeutung der Chemie im Terrorismus“ (Chemie in unserer Zeit 48, 2014). Gewalt als Mittel zur „Durchsetzung gesellschaftlicher Veränderungen“ ist seit dem Tag, als Kain Abel erschlug, historisch wahrlich kein neues Phänomen. Aber das Gewaltpotential chemischen Wissens entfaltete sich erst in den Giftgaseinsätzen an den Fronten des Ersten Weltkrieges. Dabei zeigte sich auch, daß mit geringem Aufwand an chemischen Materialien und simplen Verfahren maximal verheerende Wirkungen zu erzielen waren. Dieses Prinzip erkläre den hohen Stellenwert, der der Chemie heute im internationalen Terrorismus zukomme.

Viele Tonnen radioaktiven Materials sind unauffindbar

Bei der Auswahl gefährlicher Stoffe gebe es allerdings eine Art Beliebtheitsskala. Denn die meisten terroristischen Attacken werden durch selbst hergestellte und illegal beschaffte Explosivstoffe ausgeführt. Fast unbedeutend sind hingegen Anschläge mit chemischen Kampfstoffen, obwohl hier toxische Massenprodukte der chemischen Industrie ein nicht zu vernachlässigendes Gefahrenpotential schaffen. Immerhin nicht auszuschließen seien überdies Anschlagsszenarien unter Verwendung radioaktiver Stoffe. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sollen einige Tonnen radioaktiven Materials aus alten Beständen verschwunden sein. Und auch in den USA sind seit 1996 über 1.500 Strahlenquellen aus Industrie und Medizin „verlorengegangen“. Davon habe sich bisher nur die Hälfte wieder angefunden.

Eine etwas ungemütliche Bilanz, da in afghanischen Al-Qaida-Trainingslagern Pläne für den Bau von schmutzigen Bomben erbeutet wurden. Die Frage sei heute nur, ob diese Terroristen Fachleute zur Hand haben, um detonationsstabile hochradioaktive Stoffe in die Umwelt auszubringen. Um eine möglichst große Fläche radioaktiv zu belasten, müßten bei einem Anschlag eine oder mehrere Bomben von mindestens 20 Zentner Sprengstoff explodieren, die ein strahlendes Nuklid enthalten. Aber auch weniger spektakuläre Verwendungen sind denkbar, wie der Strahlentod eines Ex-Sowjetagenten und FSB-Offiziers in London 2006 beweise. Der Putin-Kritiker Alexander Litwinenko war mit Polonium-210 verseuchter Tee verabfolgt worden, das wahrscheinlich aus einem russischen Kernreaktor stammte.

Da aber die Beschaffung von Strahlenmaterial schwierig und der Bau radiologischer Höllenmaschinen kompliziert sei, erkläre sich die unangefochtene Favoritenrolle, die Explosivstoffe in terroristischen Kreisen spielen. Benötigte Komponenten für Sprengstoffe und Zündsysteme sind aus gut zugänglichen, im sprichwörtlichen Baumarkt erhältlichen Ausgangsmaterialien herzustellen. Das Internet bietet zudem für die Produktion von Selbstlaboraten Rezepturen in Fülle an. Feste, plastische oder flüssige energiereiche Stoffe, von Schwarzpulver und Ammoniumnitrat über Nitroglycerin und Hexogen bis zum hochexplosiven Tetryl, können von erfahrenen Laboranten „grundsätzlich“ zu jedem Sprengstoff verarbeitet werden. Nur bei minimaler Laborausrüstung riskieren die Produzenten unkonventioneller Sprengstoffe selbst ihr Leben. Unfreiwillige Zündungen seien dann nicht auszuschließen und sogar wahrscheinlich.

Dschihadisten greifen nach chemischen Kampfstoffen

Ebenfalls problematisch für den terroristischen Einsatz ist die unterschiedliche „Schlagempfindlichkeit“ der Sprengstoffe gegenüber mechanischer Belastung. Als gering schlagempfindlich sind Schwarzpulver oder TNT beste Garanten dafür, daß sie in ihrer „Umhüllung“ das Zielobjekt auch wirklich erreichen und erst dann zünden. Der Grad der Zerstörung ist exakt kalkulierbar, hängt von der Sprengstoffmenge und der Entfernung des Anschlagziels ab.

Eine von Selbstmordattentätern bevorzugte Weste, die mit 30 Kilo Sprengstoff explodiert, tötet Personen im Umkreis von zehn Metern absolut sicher. Verletzungen auch mit Todesfolge sowie starke Gebäudeschäden an massiven Betonkonstruktionen treten selbst in einigen hundert Metern Entfernung auf. Rohrbomben steigern die Wirkung, wenn man Nägel, Schrauben oder Glassplitter beigibt. Al-Qaida-Terroristen verwenden gern Tonerkartuschen von Laserdruckern, die sie mit Nitropenta füllen.

Höhere Anforderungen als die pulverförmigen Stoffe stellt Plastiksprengstoff. Aber wer unter den Terroristen versiert ist in Techniken der Synthese, für den böten Semtex A und C4 „interessante“ Optionen, da sie als knetbare Masse in beliebige Formen und Filme zu bringen seien. Die Explosionsfähigkeit bleibe auch bei minimaler Filmdicke erhalten, so daß sie ideal in die dünnen Auskleidungen von Gepäckstücken passen und leicht detonieren. Durch eine „recht einfache Synthese“ erhalte man Nitropenta durch Auflösen in Pentaerythrit in kalter 90prozentiger Salpetersäure (HNO3). Anschließend, so referiert Wöhrle knapp, als ginge es um ein Rezept für Streuselkuchen: „Ausfällen mit Wasser, filtrieren und neutral waschen.“

Was derart harmlos klingt, entfaltet im terroristischen Kontext schreckenerregende Effekte: 350 Gramm Semtex, elektronisch gezündet über ein Radiokassettengerät, genügten im Dezember 1988, um eine Pan-Am-Boing 747 über dem schottischen Lockerbie explodieren zu lassen und 270 Passagiere in den Tod zu reißen.

Al-Qaida, Hisbollah, Hamas und Konsorten haben im Gegensatz zum Umgang mit Explosivstoffen bisher kaum Erfahrung in der Herstellung und Anwendung von chemischen Kampfstoffen. Indizien dafür, daß sich dies bald ändern könnte, lieferte Mitte 2013 die Aushebung von drei Chemie­laboren in Bagdad, wo die Giftgase Sarin und S-Lost hergestellt werden sollten. In den Laboren fand man auch Spielflugzeuge mit Fernsteuerung, die die Kampfstoffe in Europa und Nordamerika zu Anschlagszielen transportieren sollten.

Foto: Auto mit großen Mengen Semtex auf der Ladefläche, Kabul 2002: Für Islamisten bieten Plastiksprengstoffe „interessante Optionen“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen