© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Im Auftrag der geistigen Mobilmachung
Vier Werke widmen sich der Rolle der Künstler und Intellektuellen während des Ersten Weltkriegs
Günter Scholdt

Vier kulturgeschichtliche Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg stehen auf dem Prüfstand. Sie behandeln Schriftsteller, zuweilen auch Künstler und Gelehrte. Steffen Bruendels „Zeitenwende 1914“ vermittelt einen passablen historischen Überblick über wesentliche Abläufe, darunter das „Augusterlebnis“ 1914 und die mehrheitliche Begeisterung der Dichter, Maler und Denker, die sich zuhauf der (geistigen) Mobilisierung zur Verfügung stellten, bevor sie, vom Realitätsschock desillusioniert, teilweise ins pazifistische Lager übergingen und expressionistische oder dadaistische Anti-Kriegskunst produzierten.

Der Verfasser beschreibt die Genese der „Ideen von 1914“, den Deutschland aufgezwungenen Propagandakrieg, in dem es von vornherein chancenlos war – übrigens weniger durch propagandistisches Ungeschick als durch massiv ungleiche Rahmenbedingungen. Er skizziert Diskussionen über die künftige Staatsform im Rahmen der Wahlrechtsreform in Preußen, den Massenstreik im Januar 1918, das letzte militärische Aufbäumen im Westen vor der Niederlage, den Versailler Vertrag und als Epilog die Bücherverbrennung.

Die Dichte der kulturellen Anfangserzählung verliert sich bald zugunsten politisch-historischer Schwerpunkte – eine auch bei Ernst Piper („Nacht über Europa“) zu bemerkende, häufige Schwäche kulturtheoretischer Ansätze. Dennoch bietet Bruendel für alle, die mit der Materie bislang nicht besonders vertraut sind, ein nützliches Resümee aktueller Mehrheitspositionen zum Ersten Weltkrieg. Was der Klappentext zusätzlich verspricht – ein „außergewöhnliches Leseerlebnis“, „unkonventionelle Darstellung“, „neuesten Stand der Forschung“ – muß man nicht zum Nennwert nehmen. Denn vieles las man schon andernorts, und daß Krieg als Beschleuniger zur Durchsetzung von Ideen und Kunstformen wirkt, wußten bereits die Zeitgenossen. Auch die brisantesten Thesen neuester Geschichtsschreibung, die jahrzehntelang zementierte Positionen gefährden, finden eher selten Eingang in den Text, ähnlich wie bei den anderen hier besprochenen Werken.

Immerhin begrüßt man Bruendels Klarstellung, daß es hierzulande keine der Entente vergleichbare Greuelpropaganda gab. Desgleichen, daß er sich von gängigen antideutschen Klischees fernhielt und darin von Ernst Piper wohltuend unterscheidet. In dessen „Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs“ wimmelt es nämlich von bissigen Urteilen über Patrioten wie Richard Dehmel, Walter Flex, Ernst Lissauer, Ludwig Thoma, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann usw. Er spricht vom deutschen „Radikalnationalismus“, sieht im „unglaublich“ brutalen Militarismus den Grund für Deutschlands schlechten Weltruf und im „Burgfrieden“ allenfalls einen „Waffenstillstand im Klassenkampf“.

Taten oder Untaten im Krieg behandelt Piper bereits quantitativ, von der Schwerpunktsetzung her in tendenziöser Unausgewogenheit. Er lobt bei französischen Frontschriftstellern, was er bei hiesigen Kollegen tadelt. Er nennt den Aufruf der 93 prominenten Deutschen „An die Kulturwelt“ ein „unerhörtes Beispiel autistischer Arroganz“ im Gegensatz zur gelassenen Diktion bei Englands verleumderischem „Bryce-Report“ über vermeintliche Schandtaten in Belgien.

Was aber könnten neue Forschungsperspektiven überhaupt an besseren Einsichten erbringen? Wo die Schuldfrage heute anders beantwortet wird, geraten geopolitische Großmachtinteressen als eigentliche Ursachen stärker in den Blick. Dies sollte eigentlich von einem Moralismus befreien, der einer erkenntnisleitenden Identifikation mit bislang pauschal kritisierten zeitgenössischen deutschen Standpunkten im Wege stand.

Kunst und Literatur von nachhaltiger Wirkung

Von Geert Buelens, dem in Holland lehrenden Belgier, darf man solche Revisionen wohl kaum erwarten, muß daher nicht alle seine historischen Wertungen übernehmen. Die vornehmliche Leistung von „Europas Dichter und der Erste Weltkrieg“ besteht vielmehr in einer Art internationaler Schriftsteller-Typologie und deren ästhetischer Ausdeutung.

Matthias Steinbach hingegen, der mit „Mobilmachung 1914“ in Kempowski-Manier ein „literarisches Echolot“ der Jahre 1914 bis 1916 vorlegt, nimmt durch zahlreiche Textzeugnisse jener Zeit zumindest die deutsche Binnenperspektive ein. Allerdings traf er bei deren Auswahl zwei problematische Entscheidungen. Zunächst einmal dominieren über Gebühr literarische Vertreter gemäß heutiger linker Selektion. Das Gegenlager ist durch Flex, Rudolf G. Binding oder Ernst Jünger ziemlich dünn besetzt. Weitere Vertreter des Soldatischen Nationalismus kommen nicht vor.

Zudem verknüpft der Herausgeber Dokumente der Weltkriegsjahre mit Texten wie Edlef Köppens „Heeresbericht“, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder sogar Jaroslav Hašeks satirischem „Schwejk“, allesamt engagiert-pazifistische Romane, die jedoch erst Jahre später entstanden. Nichts gegen deren Einbeziehung, aber ein authentisches, auch quantitativ repräsentatives Zeitbild wird so nicht kreiert. Vielmehr zeichnen so wichtige „Zeugen“, vom Leser kaum bemerkt, ein Fronterlebnis erst aus der nachträglichen „Geläuterten“-Perspektive, zu der wiederum „Bellizisten“ wie Werner Beumelburg, Franz Schauwecker oder Thor Goote nichts beitragen dürfen.

Wie besteht Bruendel angesichts der Gefahr vordatierter Rückblicks-Urteile? Sein Vorwort weckt jedenfalls große Erwartungen: „Aber auch wenn die Inhalte vieler Werke hundert Jahre später fremd anmuten, kann man sie weder pauschal als intellektuelle Verirrung verdammen noch als künstlerisch oder inhaltlich wertlos marginalisieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Nicht nur das kritische oder pazifistische, sondern auch das zustimmende kriegspolitische Engagement hat künstlerische und literarische Werke von nachhaltiger Wirkung geschaffen.“

Volksdidaktischer Grundzug ist in allen Werken spürbar

Auf diesen Nachweis, der angesichts des gegenwärtigen Zeitgeists Courage und Souveränität erfordert, wartet man allerdings weitgehend vergeblich, zumal ihm zuweilen die fahrlässige Gleichsetzung von „realistisch“ mit „kriegskritisch“ bzw. „pazifistisch“ unterläuft. Sein einziger Qualitätsbeleg ist Fritz Erlers Kriegsanleihe-Porträt eines stilisierten Frontsoldaten wie überhaupt die Plakatkunst, die sich erst Ende 1916 langsam als Werbemittel durchsetzen konnte. Ansonsten wird einmal – wertungslos – „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ zitiert, und das war’s auch schon. Stattdessen allüberall Zitate von Bruendels Favoriten: Brecht, Toller, Tucholsky, Heinrich Mann, Karl Kraus, Walter Hasenclever, Hugo Ball und nicht zuletzt wie ein Basso ostinato Erich Mühsam, dessen scharfe Politverse das jeweilige Fazit historischer Erörterungen ziehen.

Wichtige Fragen wie die nach den kontroversen Wechselbeziehungen der Schriftsteller, Künstler oder Denker werden gar nicht erst gestellt. Der zuweilen äußerst pikante Meinungsumschwung von „Renegaten“ bleibt unerörtert, wo die Haltung zum Krieg nur als Lernprozeß ursprünglich Berauschter erscheint, die jetzt endlich aufwachen und ihre Autorenpflicht ernst nehmen. Wo ihre früheren wehrhaften Motive allenfalls durch Massenverführung oder eine generell überschätzte Zensur erklärt werden, die angeblich alle Gegenstimmen zum Schweigen brachte.

Daß Verantwortung auch anders erscheinen konnte, selbst wo man fast alle Illusionen im Schützengraben verloren hatte, kommt nicht zur Sprache. Nichts davon, daß Ernst Wiechert, Hans Carossa, Karl Friedrich Borée oder andere den Krieg in seinen physischen wie seelischen Verheerungen zwar wahrlich verabscheuten, aber sich gleichwohl weiterhin im Dienst sahen. Nichts davon, daß selbst ein Kurt Tucholsky noch im September 1918 zur Zeichnung einer Kriegsanleihe aufrief und dabei mahnte, alle inneren Differenzen hätten angesichts der Feinde zurückzustehen: „Solange jene anderen schießen, / solange hilft das alles nichts“ – Ratschläge, die er selbst binnen weniger Wochen zugunsten der Ankläger-Pose vergaß. Keine wirkliche Empathie angesichts der ernstgenommenen Tragik, gemäß Richard Dehmel zwischen „Volk und Menschheit“ zu entscheiden.

Dieser volksdidaktische Grundzug aller genannten Bücher, in der obsoleten Annahme, man müsse in unserer postheroischen Gesellschaft, die allenfalls Deserteuren Denkmäler setzt, tatsächlich noch retrospektiv für Pazifismus werben, hat seinen Preis. Originalität und Innovation winken nur dort, wo ein unpolemisches Zeitbild jenseits von scheinbaren Tagesinteressen das Ziel ist, wo tatsächlich noch etwas rekonstruiert wird, was auch den Verlierern der Geschichte die Chance läßt, sich darin zu erkennen. Legt man solche Maßstäbe an, muß man auf die Musterstudie zum Thema wohl noch warten.

 

Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß.

Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. Herbig Verlag, München 2014, gebunden, 304 Seiten, 19,99 Euro

Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, gebunden, 459 Seiten, 26,95 Euro

Matthias Steinbach (Hrsg.): Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot. Reclam Verlag, Stuttgart 2014, broschiert, 288 Seiten, 12,95 Euro

Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Propyläen Verlag, Berlin 2013, gebunden, 592 Seiten, 26,99 Euro

Foto: Otto Dix, „Sturmtruppe geht unter Gas vor“, Radierung 1924: Fronterlebnisse aus der nachträglichen „Geläuterten“-Perspektive

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