© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Grenzüberschreitende soziale Schieflagen
Lissabon-Strategie: Dynamisch wachsen im Raum der Europäischen Union derzeit nur die Armutszonen
Martin Köster

In bürgerlichen Zeitdiagnosen nach Ende des Ersten Weltkrieges dominierte Untergangsstimmung. Darin sprach sich ein gemeineuropäisches Lebensgefühl aus, denn nicht nur die kulturkritische Intelligenz in den Verliererstaaten Deutschland und Österreich erklärte das „Zeitalter der Sekurität“ für beendet. In der „ganzen kapitalistischen Ökumene“, so stellte der zum George-Kreis zählende Wirtschaftswissenschaftler Arthur Salz 1925 nüchtern fest, „gibt es heute keine Klasse, ja kaum eine einzige Einzelperson, die von sich sagen könnte, sie fühle sich sicher und geborgen. Labil, schwankend, unsicher ist aller erworbene und ererbte Besitz.“

Als Folge radikaler Globalisierung, verschärft durch US-Finanzkrise, südeuropäische Schuldenkrise und „Euro-Rettungspolitik“, ähneln die Zustände in der „kapitalistischen Ökumene“ heute wieder jenen instabilen Verhältnissen vor bald hundert Jahren. Denn die im März 2000 verabschiedete „Lissabon-Strategie“, die zum Ziel hatte, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, ist erwartungsgemäß ebenso an den Realitäten gescheitert wie bislang alle übrigen, aus dem „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch) geborenen Brüsseler Politikprojekte.

Stattdessen lagen pünktlich im Jahre 2010 Zahlen vor, die den Illusionismus und die Hybris des Lissaboner Programms offenbarten. 23 Prozent der Bevölkerung in den 28 EU-Mitgliedsländern galten damals als von Armut und sozialer Exklusion bedroht. 2012 war die Zahl der Ausgesteuerten schon auf 24,8 Prozent oder 124,5 Millionen EU-Bürger angestiegen. Und derzeit gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß die Armutsstatistik 2014 weniger beunruhigend ausfallen könnte. Damit, so konstatieren der Geograph Holger Jahnke und der Bildungsökonomik lehrende Gerd Grözinger (beide Uni Flensburg), sei Armut weder als marginales noch als neues Phänomen zu verstehen, „sondern als strukturelles Defizit der europäischen Wohlfahrtsgesellschaften“ (Geographische Rundschau, 10/2014).

Die Verarmung in der EU beschleunigt sich

Zumal die Massenproteste vor allem in Spanien immer klarer zeigten, wie stark auch die vielbeschworene Mitte der europäischen Gesellschaften erodiere. Wie Hohn muten da die kommentarlos von Jahnke und Grözinger neben ihre Studie plazierten jüngsten, gewohnt vollmundigen Brüsseler Versprechungen an, die „EU-Kernziele bis 2020“, wonach bis dahin 75 Prozent der 20- bis 64jährigen Beschäftigung finden und sich 20 Millionen Menschen weniger in einer prekären sozialen Lage befinden sollen. Ein ohnehin bescheidenes Ziel, aber selbst das bleibt allein deswegen unerreichbar, weil die EU derzeit nicht nur massiv „Armutsflüchtlinge“ aus Afrika und Vorderasien importiert, sondern auch, wie die auf „Geographische Migrationsforschung“ spezialisierte Assistentin Jahnkes, Verena Sandner Le Gall, in ihrem Beitrag über Zuwanderung in der erweiterten EU ausführt, den Zustrom osteuropäischer Zigeuner nicht meistert. In deren Zielländern, in Großstädten wie Paris und Madrid, lebten sie gegenwärtig bereits unter Bedingungen, die „Ähnlichkeit mit den Slums des Globalen Südens aufweisen“.

Aber auch aus der Sicht des ökonomischen Musterknaben Deutschland machen sich Armutsphänomene längst nicht mehr nur im räumlichen Jenseits bemerkbar. Zwar führen wirtschaftlich notorisch schwache Staaten wie Bulgarien, Rumänien, Lettland, Griechenland, Litauen und Ungarn die Armutstabelle von 2012 an, aber Deutschland liegt im unteren Mittelfeld und weist sogar mehr Arme aus als Frankreich. Ende Oktober bestätigten neueste Daten des Statistischen Bundesamtes diese soziale Schieflage, da inzwischen knapp 13 Millionen Deutsche nicht über 900 Euro monatlich verfügen und somit als armutsgefährdet einzustufen sind.

Als Ursachen zunehmender Zerklüftung machen Jahnke und Grözinger die schwindende Macht der Nationalstaaten aus. Zu geringe staatliche Leistungen und zu niedrige staatliche Umverteilungskraft führen zu „hoher Ungleichheit“. Denn einerseits, von unten betrachtet, erhöhe sich der Abstand der Armutseinkommen von der Armutsgrenze, während sich die Distanz des Einkommens der unteren Mittelschicht zu ihr seit Ausbruch der offenen Krise (2008) verringer.

Im krassen Kontrast dazu konzentriere sich andererseits der Reichtum bei immer weniger Menschen. Staaten mit hohen Armutsanteilen, so ermittelte die EZB 2013, verzeichneten darum häufig hohe durchschnittliche Vermögenswerte. In der EU besaß 2010 das wohlhabendste Fünftel über zwei Drittel des Nettovermögens. Im Ländervergleich erweise sich daher, daß gerade Staaten mit sinkender Wohlfahrtsstaatlichkeit und hoher Armut „wenig Neigung zur Umverteilung zeigen und relativ niedrige öffentliche Einnahmen generieren“.

Als Musterbeispiel eines derart von der Wirtschaftskrise in die Sozialkrise abgerutschten Staates analysiert Jahnke in einer eigenen Untersuchung die Situation in Italien. Von 2007 bis 2012 erhöhte sich die Anzahl der Haushalte, die dort in Armut leben, dramatisch von 975.000 auf 1,73 Millionen. Da Italien nur über ein schwach ausgeprägtes System staatlicher Transferleistungen verfügt, daher Migranten nicht alimentiert, und als einziges EU-Land neben Griechenland keine flächendeckende Grundsicherung kennt, ist primär der Süden wieder zum „Armenhaus Europas“ geworden.

Im Mezzogiorno einschließlich Sizilien und Sardinien schwillt der Strom der Auswanderer Richtung Deutschland und Schweiz (knapp 40 Prozent der italienischen Emigranten) seit 2007 ähnlich beängstigend an wie die Arbeitslosenzahl, die von 800.000 (2007) auf 1,6 Millionen (Anfang 2014) und damit auf ein Fünftel der Beschäftigten hochschnellte. Da der italienische Staat ein schwacher „Umverteiler“ sei und seine Rentenreformen nur langsam wirkten, sei zumindest im Mezzogiorno „auf absehbare Zeit keine Besserung zu erwarten“.

Eine Prognose, der Catarina Gomes de Matos und Samuel Mössner, die an der Universität Freiburg Probleme der Stadtentwicklung und Städtischen Konfliktforschung behandeln, für das von der US-Finanzkrise und dem Platzen der Immobilienblase schwer getroffene Spanien zustimmen. Als belastender Sondereffekt sei in Spanien allerdings in Rechnung zu stellen, daß die Krise genutzt wurde, um die „Vermarktlichung“, die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft zu legitimieren und den Abbau wohlfahrtstaatlicher Sicherungssysteme zu forcieren. Darum gab es 2012 insgesamt 25 statt 8,3 (2007) Prozent Arbeitslose in Spanien, und die Jugendarbeitslosigkeit liegt konstant bei über 50 Prozent. Als Antwort darauf formiert sich seit 2011 eine breiter werdende Protestbewegung, in deren Aktionen sich soziale Spannungen immer häufiger entladen, während es bei den „Überschußländern, allen voran Deutschland“ noch „relativ ruhig“ bleibe.

www.geographischerundschau.de

Foto: Ein als Clown verkleideter Bettler auf der Gran Via in Madrid: Der Süden wird zum Armenhaus Europas

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