© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Polen und die Vertreibung der Deutschen
Viele Wahrheiten
Rolf Stolz

Vor fast 70 Jahren verbanden sich die Vertreibungen der Deutschen aus dem östlichen und südöstlichen Europa mit Massenvergewaltigungen und Massenmord. Eines der großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, auf halber Strecke zwischen dem Völkermord an den Armeniern und Assyrern um 1915 und Srebrenica 1995, blieb ungesühnt, wurde unter dem Beton des Status quo und chauvinistischer Legenden begraben und schwärt doch weiter als offene Wunde.

Nicht zuletzt auf deutscher Seite versuchen Geschichtsfälscher jede offene Debatte und freie Forschung zu ersticken, wofür erst kürzlich die Kampagne gegen Manfred Kittel, seit 2009 Direktor der Berliner Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Zeugnis ablegte. Als Antreiber fungierte hier vor allem der Leipziger Historiker und Wissenschaftsmultifunktionär Stefan Troebst, der dem Beirat der Stiftung vorsitzt. Es mangelt also nicht an guten aktuellen Gründen, die Geschichte der Deutschen im heutigen Polen kritisch zu beleuchten.

Die amerikanische Sängerin Joan Baez singt 1979 in ihrem Lied „For Sasha“: „And I remember the holocaust / I remember all we lost / The families torn and the borders crossed“ (Und ich erinnere mich an den Holocaust / Ich erinnere mich an alles, was wir verloren haben / Die Familien zerrissen und die Grenzen überschritten).

In der Tat: Jüdische und nichtjüdische Deutsche (und mit ihnen die Weltgemeinschaft und die Weltkultur) haben auf immer unendlich viel an menschlichen, geistigen und materiellen Werten durch Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Juden zwischen 1933 und 1945 verloren. Nach den Vertreibungen sind Länder und Völker ärmer, sie berauben und amputieren sich selbst – das gilt für Deutschland und Polen wie für die heutige Türkei, die sich gewaltsam um ihre Armenier, Griechen und syrischen Christen gebracht hat.

1945 haben nicht allein Millionen damals in den Grenzen des heutigen Polen lebende Deutsche ihre Heimat, ihren Besitz und damit ihr bisheriges Leben verloren. Durch das Pogrom von Jedwabne vom Juli 1941 (300 bis 1.600 Tote), das Pogrom von Kielce vom Juli 1946 (über 40 Tote) und zuletzt noch 1968 durch über 20.000 politische Entlassungen im Zuge der von Politikern wie Mieczysław Moczar (Innenminister der Volksrepublik von 1964 bis 1968) angeheizten antisemitischen Kampagnen verjagte Polen innerhalb von zwei Jahrzehnten die meisten jener 300.000 Juden, die Krieg und Todeslager überlebt hatten.

Meine familiären Wurzeln im Osten Europas markieren den roten Faden durch mein literarisches Werk, schaffen eine besondere Färbung von mehrfachen Heimaten, Ruhelosigkeit, unablässiger Verunsicherung, elegischer Trauer und Erbitterung. Damit bin ich aufgewachsen, das habe ich durch Worte, wortlose Hinweise und stille Einverständnisse aufgenommen. Meine Vorfahren wurden, als Polen noch bestand, um 1750 von polnischen Großgrundbesitzern zur Urbarmachung der Warthe-Niederung gerufen. Als Kolonisten rodeten diese „Hauländer“ die Urwälder und entwässerten die Moorgebiete. „Hauländer“ bedeutete ursprünglich „Holländer“ – teils wegen der norddeutsch-niederdeutschen Herkunft vieler Siedler, teils wegen der aus Holland stammenden Methoden der Trockenlegung.

Die Hauländer besaßen besondere Privilegien wie die Religionsfreiheit, das Recht zur Weitervererbung des gepachteten Landes oder zum Wegzug in andere Gegenden, die die meist auf den guten, lehmhaltigen Böden ansässigen polnischen Bauern damals nicht hatten. Die Siedler nahmen also niemandem sein Land weg, sondern rodeten unter großen Entbehrungen mit Axt und Spaten bisher ungenutzte Wald- und Ödlandflächen. „Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot“ galt vielfach buchstäblich für die Generationenfolge. Kennzeichnend ist der Name der 1787 gegründeten Hauländerei „Białobłot / Białobłoty“ bei Konin – auf deutsch in etwa „weißer Morast“, also zuviel Sand und zuviel Nässe in einem.

Warum verläßt ein Bauer mit Frau und kleinen Kindern seine Heimat? Der Grund war politisch: Nach 1905 versuchten sowohl der Zarismus als auch Panslawisten und großrussische Chauvinisten, den Haß des Volkes auf die Deutschen und die Juden zu lenken.

Meine Großeltern mütterlicherseits, die als russische Staatsangehörige nahe Konin lebten, zogen 1909 mit anderen Bauern in einem kleinen Treck aus ihrer Heimat knapp hundert Kilometer nach Westen in die preußische Provinz Posen, erwarben Ackerland, bauten ein Haus. Warum verläßt ein Bauer mit zwei kleinen Kindern und seiner schwangeren Frau seine Heimat? Der Grund war ein eminent politischer: Nach der Russischen Revolution von 1905 versuchten sowohl der Zarismus als auch die Panslawisten und die großrussischen Chauvinisten, den Haß des Volkes auf die Deutschen und die Juden zu lenken. Mein Großvater, der sein Leben lang besser Russisch als Polnisch sprach und sich bis in die Kleidung mit der russischen Kultur identifizierte, floh vor dieser Pogromstimmung und dem, was er in der Folge befürchtete.

In Deutschland vollzog sich nach der Polen-Begeisterung der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts (etwa beim Hambacher Fest 1832, in den „Polenliedern“ Platens und anderer Dichter) nach 1848 ein Umschwung. Der Aufstieg des Panslawismus mit seinen Vorherrschafts- und Vertreibungsplänen, mit seinen chauvinistischen Reinheitsphantasien, führte zu einer Gegenbewegung, der sich auch die deutsche Linke entschieden anschloß, die im Panslawismus wie in der Idee einer Wiedergeburt Polens als antideutscher und antirussischer Großmacht eine fortschrittsfeindliche reaktionäre Fiktion sah.

Karl Marx schrieb in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 15. Februar 1849: „Die Deutschen haben im Norden das ehemals deutsche, später slawische Gebiet von der Elbe bis zur Warthe den Slawen wieder aberobert; eine Eroberung, die durch ‘geographische und strategische Notwendigkeiten’ bedingt war, die aus der Teilung des Karolingischen Reichs hervorgingen. Diese slawischen Gebietsstrecken sind vollständig germanisiert; die Sache ist abgemacht und läßt sich nicht redressieren, es sei denn, daß die Panslawisten die verlorengegangene sorbische, wendische und obotritische Sprache wieder auffänden und den Leipzigern, Berlinern und Stettinern aufzwängen. Daß diese Eroberung aber im Interesse der Zivilisation lag, ist bisher noch nie bestritten worden.“

Trotz der prinzipiell minderheitenfeindlichen Politik der polnischen Regierungen nach 1919 waren viele Polen alles andere als deutschenfeindlich. Das bewies eindrucksvoll die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921, als kaum ein Deutscher der Parole „Stimme für Polen und du wirst frei sein“ folgte, aber viele ethnische Polen sich für Deutschland entschieden (Gesamtergebnis: 59,6 Prozent für Deutschland, 40,4 Prozent für Polen bei 98 Prozent Wahlbeteiligung). 1920 stimmten im südlichen Ostpreußen (Ermland und Masuren) 97,9 Prozent für Deutschland und nur 2,1 Prozent für Polen.

Als Józef Piłsudski (1867–1935) sich nach dem Putsch von 1926 endgültig als teils diktatorischer, teils taktisch lavierender Führer Polens durchsetzte, verfolgte er zwar eine mit linken demokratischen Phrasen garnierte undemokratisch-faschistoide Politik, verzichtete aber weitgehend auf antisemitische Kampagnen und jene massenhafte Ausweisung von Deutschen, die 1919/20 am Anfang der polnischen Republik das Verhältnis zwischen den Völkern vergiftet hatte. Lebten um 1910 allein in der Provinz Posen rund 700.000 Deutsche, so blieben nach 1920 in ganz Polen durch gezielte Entlassungen im öffentlichen Dienst, Ausweisung und erzwungene Abwanderung nur wenig mehr als eine Million Deutsche übrig.

Der Ausweg aus den ebenso verführerischen wie desaströsen Sackgassen ist nicht die Flucht in Selbsthaß und antinationales Europageschwafel, sondern ein Patriotismus der Verbundenheit mit der eigenen Nation, ohne in Feindschaft gegen andere Völker zu verfallen.

Bis 1929 enteignete der polnische Staat nach Artikel 297b des Versailler Vertrages viele ortsansässige Deutsche, denen die polnische Staatsbürgerschaft nicht zuerkannt wurde. Das Agrarreformgesetz von 1925 zwang zudem viele deutsche Bauern, ihr Land zu veräußern. Während die rund 340.000 Deutschen in der Provinz Posen und in Pommerellen und die 370.000 Deutschen in der polnischen Wojewodschaft Schlesien zum Teil ihre deutsche Staatsangehörigkeit bis 1939 behielten, wurden besonders die übrigen Deutschen in Mittel-, Süd- und Ostpolen vom polnischen Staat sehr stiefmütterlich behandelt.

Nach dem Tode Piłsudskis 1935 trat Edward Rydz-Śmigły (1886–1941) als neuer starker Mann die Herrschaft an – wie Hitler jemand, der eigentlich Maler werden wollte. Wären sie beide es doch nur geworden und ihren Völkern als Politiker erspart geblieben! Rydz-Śmigły verschärfte sofort den Kurs gegen die Minderheiten, vor allem gegen die Deutschen und die Juden. Es war Rydz-Śmigły, der den „Bund des jungen Polen“ (Związek Młodej Polski) unter Jerzy Rutkowski (1914–1989), dem Boß der chauvinistisch-antisemitischen „Phalanx“ bzw. „Falange“, ins Leben rief, auch wenn er sich später davon etwas distanzierte, um seine Beziehungen zum zivilen Machtzentrum um den Staatspräsidenten Ignacy Mościcki (1867–1946) zu verbessern.

Es gab Haß zwischen Polen und Deutschen, aber es gab nicht nur Haß: Anfang September 1939, in den Tagen des antideutschen Massakers des „Bromberger Blutsonntags“ verließ meine Großmutter aus Furcht vor Kriegsereignissen und Marodeuren mit einer Gruppe Deutscher und Polen fluchtartig mit Pferd und Wagen ihr Dorf. Eine Rotte der oft betrunkenen, aufgehetzten und beutegierigen polnischen Freischärler hielt den Wagen mit meiner Großmutter an und wollte sie ausfragen. Dies hätte lebensgefährlich werden können, weil sie nur einige Brocken Polnisch sprach. Aber man hatte ihr eingeschärft, kein Wort zu erwidern, und sie hielt sich daran. Die polnischen Nachbarn erklärten in aller Ruhe, die Frau sei eine taubstumme Polin. Nach einigem Hin und Her ließ man sie unbehelligt weiterziehen.

Im Januar 1945 flohen meine Großeltern mit den zu Hause gebliebenen Kindern, einer polnischen Magd und einem polnischen Knecht vor der Roten Armee. Diese beiden begleiteten, wie sie es versprochen hatten, den Treck bis zur Oder und kehrten dann zurück. Sie hätten diese Gefahren nicht auf sich genommen, wenn sie, wie das Klischee es behauptet, diskriminierte und ausgebeutete Arbeitssklaven gewesen wären.

In jedem Fall gilt: Schuld, Verbrechen, Fehler finden sich in den letzten zweihundert Jahren auf deutscher wie auf polnischer Seite reichlich, aber einseitige Beschuldigung hilft nicht weiter, sondern nur ein sachliches Klären historischer Tatsachen und Wahrheiten. Der Ausweg aus den ebenso verführerischen wie desaströsen Sackgassen ist nicht die Flucht in Selbsthaß und antinationales Europageschwafel, sondern ein Patriotismus der Verbundenheit mit der eigenen Nation, ohne in Feindschaft gegen andere Völker zu verfallen, ein Patriotismus, der internationale Solidarität und den Willen zum Aufbau eines demokratisch-föderativen Europas der Vaterländer verbindet – ganz so wie es der in Wilna geborene, in Warschau und Nizza aufgewachsene französische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Romain Gary (1914–1980) ausdrückte: „Patriotismus ist Liebe zu den Seinen. Nationalismus ist Haß auf die anderen.“

 

Rolf Stolz, Jahrgang 1949, ist von Hause aus Diplom-Psychologe. Er war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Assimilation und Integration („Der kleine Unterschied“, JF 11/12).

Foto: Martialische Propaganda der einen wie der anderen: Kinoplakat für den NS-Propagandafilm „Feldzug in Polen“, März 1940 (links); polnisches Propagandaplakat, das Ansprüche auf deutsches Land bis nach Lübeck reklamiert: „Wir sind nicht erst seit gestern hier, wir waren weit nach Westen vorgedrungen“, nach 1918, vor 1939

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