© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Der Flaneur
Rührt euch – oder doch nicht
Andreas Harlaß

Sie ist knapp einen Meter fünfzig groß und trägt ausgelatschte Turnschuhe: Die alte Dame, mit Kurzhaarfrisur, schriller Stimme, geschätzte 70 Jahre, dreht im Schreibwarenladen beinahe jede Geschenktüte hin und her. Sie beschwert sich dabei lautstark beim Verkäufer, daß die meisten zu hoch hängen und regt sich zudem über den Preis von knapp zwei Euro pro Tüte auf.

Erregt stupst sie sich immer wieder die rutschende Brille auf die Nasenwurzel zurück, begrapscht nach den Tüten die Glückwunschkarten nebenan. „Paß off, die maust“, raunt der Ladenchef seiner Kollegin beinahe lautlos an der Kasse zu. „Mausen“ ist Sächsisch und bedeutet im Zigeunersprech „Zappzarapp“, also schnell mal etwas entwenden.

Morgen betrachte ich das andere Regal.

So viele schöne Kulis.

Muß ich alle angucken.

Die Kassendame und der Ladenchef fixieren die Dame, wie der Turmfalke die Maus auf dem Acker. Unbekümmert tastet sie sich derweil durch das Sortiment. Ihr Warenkorb neben der Kasse füllt sich langsam, aber stetig nur mit Tüten und Glückwunschkarten für jede mögliche Gelegenheit. „Ich hab aber kein Geld dabei“, pflaumt die kleine Frau. „Aber da drüben ist ja die Sparkasse, kann ich abheben.“

Die Augenbrauen des Chefs erreichen die Haarwurzeln. Dann sagt er barsch: „Sie sind jetzt eine Stunde und 20 Minuten im Laden. Es reicht langsam.“ Die kleine, alte Dame sagt friedlich: „Na gut.“ Vier Kunden, die diesen Auftritt verfolgen, sind gespannt: Zahlt sie – oder nicht?

Dann zückt die Frau ihre Kreditkarte, gibt die Geheimzahl ein – Konto gedeckt. Der Berg Tüten und Karten im Korb ist nun ihr Eigentum. Die straffe Körperhaltung des Chefs sackt ins „Rührt euch“, auch die Kassendame atmet aus dem Bauch tief durch.

Die kleine, alte Frau schnappt ihr Zeugs, dreht sich an der Tür um und posaunt: „Morgen betrachte ich mir das andere Regal mal in Ruhe. So viele schöne Kulis. Muß ich alle angucken.“ Das Personal strafft erneut den Rücken, schaut genervt Richtung Tür, aus der die kleine, alte Frau entschwindet.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen