© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

„Bäum’ aus fremdem Land“
Vor 250 Jahren zogen Deutsche an die Wolga / György Dalos widmet sich dem Schicksal dieser Minderheit in Rußland
Eberhard Straub

Rußland ist der große Garten, / Katharina – Gärtnerin, / Und die Deutschen, die sich scharten / Auf den Ruf der Kaiserin, / Sind die Bäum’ aus fremdem Land, / Beiderseits am Wolgastrand“, heißt es in einem Lied der Wolgadeutschen. Die ersten kamen 1764 auf zwei Dekrete hin – vom 4. Dezember 1762 und vom 22. Juli 1763 –, mit denen die russische Kaiserin Deutsche mit großzügigen Angeboten aufforderte, sich in Rußland anzusiedeln.

Neben allerlei finanziellen Vorteilen wurden ihnen die ungehinderte Ausübung ihres Glaubens in Aussicht gestellt, die Befreiung vom Militärdienst und Selbstverwaltung nach eigenem Recht und in deutscher Sprache. Von Integration und Leitkultur war nicht die Rede. Die absolute Monarchin eines Vielvölkerstaates erlaubte etwas, wovor sich Demokratien in ihrer Tendenz zur Homogenisierung entschieden fürchten, nämlich eine Parallelgesellschaft. Katharina die Große befand sich damit in vollkommener Übereinstimmung mit alteuropäischen Anschauungen, die der ungarische König Stephan der Heilige 1015 auf eine knappe und berühmte Formel brachte: „Ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen wird und Gleichförmigkeit der Sitten herrscht, ist schwach und zerbrechlich.“

Es waren vor allem Pietisten, Herrenhuter oder Mennoniten, die verschiedenen Stillen im Lande, die wegen der uneingeschränkten Religionsfreiheit auswanderten, eben um in eigenen politischen und religiösen Gemeinden zu leben, die heute das Gebiet um Saratow und Wolgograd ausmachen, das zwischendurch auch einmal Stalingrad hieß.

György Dalos, der in Berlin lebende jüdische Ungar, vertraut mit der Geschichte der Deutschen in Ungarn, erzählt die längst fällige „Geschichte der Rußlanddeutschen“ mit dem Gespür für Minderheiten, deren Besonderheiten und Katastrophen im 20. Jahrhundert. Er konzentriert sich auf die Wolgadeutschen, weil sie mit ihrer staatlichen Autonomie und als sozialistische nationale Republik in der Sowjetunion zum Inbegriff eines deutschen Rußland für die seit 1941 um ihren Staat gebrachten deutschen Russen geworden war. Sehr viele Deutsche lebten vor allem in Sankt Petersburg und Moskau, sie dienten – ebenso wie viele Angehörige der deutschbaltischen Oberschicht – im Russischen Reich in der Diplomatie, im Heer, in der Verwaltung, sie waren Professoren, Musiker, Unternehmer oder gaben reichen Adligen Unterricht.

Zur russischen Geschichte gehören die Deutschen, in Romanen immer gegenwärtig, skurril, verträumt, pedantisch oder lästig. Mit diesen urbanen Deutschen, Reichsrussen, haben die frommen, biederen und tüchtigen Wolgadeutschen – Bauern, Handwerker, kleine Unternehmer – nichts gemein. Sie bleiben im großen und ganzen kleine Leute, unbekümmert um sozialen Aufstieg und die dafür notwendige Wendigkeit. Was sie beieinanderhält ist ihr schlichter Glaube und die ihm gemäßen schlichten Sitten. Ein unaufgeregtes kleines Deutschland des Fleißes, der Nüchternheit, der Vorsicht, das kaum Beziehungen zu den übrigen Deutschen unterhält, nicht einmal in Rußland.

Erneut Blütezeit während der zwanziger Jahre

Die Schwierigkeiten und Schrecklichkeiten in dieser Idylle begannen während der europäischen Urkatastrophe, im Ersten Weltkrieg. Obschon die Deutschen loyal zum russischen Kaiser und Russischen Reich standen, wurden sie verdächtigt, unzuverlässig zu sein. Es kam zu Pogromen, zu ersten Umsiedlungen, dem Verbot der deutschen Sprache und zur Kriminalisierung deutscher Sitten und Gewohnheiten. Die Deutschen begrüßten deshalb die Revolution.

Während des Bürgerkriegs fügten sie sich in den Sozialismus, der ihre Nation in der Union vieler Nationen wieder ihre gewohnte Selbstständigkeit zugestand. Sie waren trotz vieler Opfer und Leiden, die sie mit den anderen Russen verband, wegen ihrer Tüchtigkeit bald wieder privilegiert. Ihre Republik deutschen Fleißes und sozialistischer Gesinnung sollte die übrigen Europäer – unter ihnen vor allem, die Reichsdeutschen – davon überzeugen, daß der Sozialismus der wahre Weg in eine schönere Zukunft ist.

Tatsächlich brachte er einen Modernisierungsschub. Denn die Wolgadeutschen verstädterten in gewisser Weise. Zu diesem Wandel, mit der zu ihm gehörenden Mobilität und dem Wunsch nach sozialem Aufstieg, trug die bürgerliche akademische Bildung bei. Paradoxerweise bewirkte der Sozialismus diese Verbürgerlichung. Das Symbol dafür war Engels, das frühere Pokrowsk mit der Philharmonie und dem Deutschen Staatstheater. Nach 1933 wirkten dort zeitweise Johannes R. Becher, Friedrich Wolf, Erwin Piscator oder Heinrich Mann. Sie repräsentierten ein anderes Deutschland.

Der Nationalsozialismus und der Krieg gegen die Sowjetunion verursachten die endgültige Katastrophe der deutschen Wolgarepublik, die im August 1941 von Stalin aufgehoben wurde. Mit der Umsiedlung der Deutschen nach Kasachstan und Sibirien, der sozialen Ächtung und Zwangsarbeit, begann ein letztes Kapitel, das mit dem massenhaften Entschluß endete, Rußland zu verlassen und Deutsche in Deutschland zu werden.

Wie sehr die Rußlanddeutschen an ihrem Vaterland hingen, bestätigt die Ausdauer, mit der sie hofften, wieder in einer autonomen Republik als Nation in Rußland anerkannt zu werden. Erst ab 1992, nach vielen Enttäuschungen, verließen die rund zwei Millionen Deutschen Rußland und die sowjetischen Nachfolgestaaten wie Kasachstan oder Kirgisien, die für sie nicht mehr der große Garten waren.

György Dalos: Geschichte der Rußlanddeutschen.Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2014, gebunden, 330 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Fotos: Saratow an der Wolga um 1900: Unaufgeregtes kleines Deutschland des Fleißes; Ankunft rußlanddeutscher Übersiedler in der Bundes-republik, Unna 1992: Ausreise nach Zwangarbeit und Ächtung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen