© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

„Antikörper gegen ideologische Indoktrination“
Der Dichter und Schriftsteller Reiner Kunze und das Menschenrechtszentrum Cottbus erhielten den Hohenschönhausen-Preis 2014
Christian Dorn

Die Demaskierung der Diktatur bringt der Schriftsteller Reiner Kunze in seinem schmalen und doch epochalen Werk „Die wunderbaren Jahre“ auf den Punkt. In dieser Sammlung von Prosa-Miniaturen spricht der „Forstarbeiter“ das Schlußwort in der an den Dichter gerichteten existentiellen Frage: „Schreibst du’s, wie’s in der Zeitung steht, oder wie’s im Leben ist?“

Wer diese Frage in der DDR offen stellte, stellte deren Existenz in Frage. Entsprechend unbeherrscht reagierten die Machthaber, die Kunze unverhohlen bedrohten, so daß dieser 1977 mit seiner Familie in den Westen ausreiste. Dennoch waren Kunzes „Wunderbare Jahre“, 1976 in Westdeutschland publiziert, in der DDR – wie Wolf Biermanns Lieder – wirkmächtige literarische Opposition, die unter der Hand zirkulierte. Einer derer, die die verbotene Literatur – darunter Kunzes Werk – in die DDR einschleusten, war der westdeutsche Jurist Jörg Kürschner, der dafür 1979 in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Hohenschönhausen eingesperrt und zu knapp sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Die Bundesrepublik konnte ihn 1981 freikaufen und damit Kürschners unfreiwillige Zeitreise in die „wunderbaren Jahre“ beenden.

Heute ist Kürschner Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der den Hohenschönhausen-Preis vergibt, den bundesweit einzigen Publizistik- und Literaturpreis zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dessen Jury entschied sich diesmal – unter insgesamt 71 Vorschlägen – für den Schriftsteller Kunze und mit einem Sonderpreis für das Menschenrechtszentrum Cottbus (JF 42/14). Der Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, erinnerte bei der Preisverleihung im Namen der Jury an die bevorstehende Machtergreifung der Linken in Thüringen und zitierte mit Blick auf Bodo Ramelow den Preisträger: „Dieser Wolf wird solange Kreide fressen, bis alle sieben Geißlein glauben, er sei ihr liebes Mütterlein“ und rief in der Saarländischen Landesvertretung, dem Ort der Feierstunde, dazu auf, am 4. Dezember gegen die drohende Wahl Bodo Ramelows in Erfurt auf die Straße zu gehen.

Dessen womöglich künftiger Kollege, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, bekannte in seiner Laudatio, bis heute regelmäßig nach den Gedichten des einstigen „Staatsfeindes“ Kunze zu greifen. Dieser, inzwischen 81 Jahre alt, nahm den Preis mit Bescheidenheit entgegen: „Es gibt viele Menschen, die sich in ungleich schlimmeren Situationen bewähren mußten als ich.“ Diesen widme er seinen Preis und bitte, unter ihnen geduldet zu werden. Seine Verse verstehe Kunze als „Antikörper gegen ideologische Indoktrination“. Dabei, so ergänzte er, gelte der Schönheit – neben der Freiheit – seine größte Sorge. Beiden Aspekten widmet sich die Reiner-und-Elisabeth- Kunze-Stiftung, in die das Preisgeld fließt.

Das mit dem Sonderpreis ausgezeichnete Menschenrechtszenturm Cottbus benötige wesentlich mehr Geld, wie deren Vorsitzende Sylvia Wähling erläuterte. Das einst größte DDR-Gefängnis für politische Gefangene war von ehemaligen Häftlingen gekauft worden, um hier eine Gedenkstätte zu schaffen, was auch europaweit einmalig sein dürfte (JF 39/12). Cottbus war zugleich die DDR-Bezirksstadt mit der höchsten Zahl an Stasi-Zuträgern. Da der gerade verabschiedete Bundeshaushalt keine Mittel für die Einrichtung bereitstellte, appelliert Wähling an den neugewählten Landtag. Schließlich könne man nicht behaupten, daß das Land Brandenburg „Vorreiter gewesen wäre bei der DDR-Aufarbeitung“. Es dürfte spannend werden, wie sich bei den anstehenden Haushaltsberatungen die AfD unter Alexander Gauland positionieren wird, der für die DDR-Nostalgie schon früher ein irritierendes Verständnis zeigte.

www.reiner-kunze.com  www.menschenrechtszentrum-cottbus.de

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