© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Ouvertüre zu einem Millionenverbrechen
Kirows Ermordung leitete vor achtzig Jahren den „Großen Terror“ in der Sowjetunion ein / Rätselraten um die Rolle Stalins
Jürgen W. Schmidt

Sergej Kirow war ein Altbolschewik, der nach 1917 eine steile Karriere machte. Im Februar 1926 übernahm der Gefolgsmann Stalins die Leitung der Leningrader Parteiorganisation, nach Moskau die zweitwichtigste im Land. Am 1. Dezember 1934 um 16.37 Uhr streckten den 48jährigen im Gebäude des Leningrader Parteikomitees im früheren Smolny-Kloster mehrere Revolverschüsse nieder.

Lange Jahre war danach im Leningrader Kirow-Gedächtnismuseum seine beim Attentat durchschossene Schirmmütze als Reliquie zu bewundern. Um den Mord an Kirow spannen sich schnell Legenden, denn für Stalin war es der formale Anlaß, bei den laufenden Säuberungen der Partei härter und vor allem sehr viel blutiger durchzugreifen. Der „Große Terror“ der dreißiger Jahre nahm hier seinen Anfang. Er sollte bis zum Tod Stalins 1953 anhalten und weite Kreise der sowjetischen Bevölkerung direkt oder indirekt erfassen.

Besonders die rätselhaften Umstände jenes Mordes bewegten die Sowjetbürger jahrzehntelang. Eigentlich war Kirow trotz seiner Eigenschaft als enger Freund Stalins vergleichsweise beliebt. So kam gerade in Perestroika-Zeiten eine Geschichtserzählung zum Tragen, welche Stalin zum heimlichen Hintermann des Kirow-Mordes erklärte. Der listige Stalin wollte mit jenem Mord angeblich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Einerseits wurde auf diesem Wege der einzig noch verbliebene Parteifunktionär nach Leo Trotzki beseitigt, der es an Popularität mit Stalin aufnehmen konnte. Andererseits gab Kirows Ermordung Stalin den willkommenen Anlaß, in Partei und Volk mittels großangelegter Säuberungen alle realen und alle potentiellen oppositionellen Kräfte zu beseitigen. Zu dem Eindruck eines Stalinschen Auftragsmordes, ausgeführt vom Geheimdienst NKWD, trugen die seltsamen Begleitumstände der Morduntersuchung bei. So wurde der vorgebliche Mörder blitzschnell hingerichtet, und diejenigen leitenden NKWD-Beamten, die man in Leningrad für die Hintermänner des Mordes hielt, wanderten gleichfalls blitzschnell in Gefangenenlager, wo sie nicht mehr lange lebten.

Stalin war an Ermordung wohl doch unbeteiligt

Mittlerweile haben russische Historiker den wegen seiner Folgen für die sowjetische Geschichte bedeutungsvollen Kirow-Mord so gründlich untersucht, wie es die vorhandenen Quellen und die spärlich noch vorhandenen Zeitzeugen zuließen. Demzufolge trug Stalin am Mord an Kirow keine Schuld. Stalin rechnete den getreuen Kirow vielmehr zu seinen wenigen echten Freunden und sandte ihm sein eigenes Werk „Fragen des Leninismus“ mit der herzlichen Widmung „Meinem teuren Freunde, meinem geliebten Bruder vom Autor“ zu.

Wie die frühere Mitarbeiterin des Stalinschen Sekretariats Elena Trjasunova bezeugte, war Stalin von der Nachricht des Mordes furchtbar betroffen. Mit zitternden Händen und bebender Stimme sei Stalin panisch umhergelaufen und habe immer wieder gemurmelt: „Was geht hier vor? Wollen sie uns tatsächlich umbringen?“ Mit „sie“ war der nur in Stalins Kopf existierende „oppositionelle“ Block der Trotzkisten-Sinowjewisten innerhalb der Partei gemeint, dem Stalin natürlich genauso ein radikales Vorgehen zutraute, wie er es in gleicher Situation praktiziert hätte.

Tatsächlich waren die Mordmotive weitaus trivialer. Als eigentliche Ursache schälte sich bei der internen Untersuchung schnell die grenzenlose Eifersucht eines gewissen Leonid Nikolajew heraus. Dessen Frau Milda Draule war als „Kellnerin“ im Smolny tätig. Nikolajew verdächtigte sie, möglicherweise nicht ganz ohne Grund, ein Verhältnis mit Kirow zu haben. Immerhin hatte Milda Draule bei Kirow zuwege gebracht, daß ihr hitzköpfiger und verhaltensauffälliger Mann nach einem Parteiausschluß wieder als Parteimitglied aufgenommen und in einem Leningrader Kreiskomitee der Partei beschäftigt wurde.

Am 1. Dezember 1934 passierte der nur 1,50 Meter große Nikolajew mittels seines Parteiausweises die Wachen im Smolny, um mit Kirow, wie er später angab, eine „entschlossene Aussprache“ zu führen. Diese endete nach kurzer Zeit damit, daß er Kirow in den Gängen des Smolny niederschoß.

Zum Attentat trug die große Nachlässigkeit des damals nicht besonders wachsamen Leningrader NKWD bei. Nicht nur hatten sich Kirows Leibwächter wegen des vertraulichen Charakters der Aussprache vor dem Attentat diskret zurückgezogen. Nikolajew war zudem schon einmal, am 15. Oktober 1934 nahe von Kirows Wohnhaus verdächtig herumlungernd, festgenommen worden. Man fand bei ihm eine Pistole, ließ ihn aber trotzdem wieder frei.

Gemeinsam mit Molotow, Woroschilow und NKWD-Chef Jagoda fuhr Stalin nach dem Attentat nach Leningrad und „räumte“ hier entschlossen auf. Der Attentäter Nikolajew, dessen Familie, seine Ehefrau Milda Draule und deren Mutter erschossen seine Schergen unverzüglich. Insgesamt brachten sie 115 Personen aus dem Umfeld des Attentäters um. Der NKWD-Chef von Leningrad, Medwedew, und dessen Stellvertreter Saporoshez wanderten sofort in ein Speziallager nach Magadan. Saporoshez half auch nicht, daß er schon monatelang krank war und am Tag des Attentats zur Kur in Sotschi weilte. Beide ereilte 1937 der Tod, als man sie aus Magadan nach Moskau holen ließ, nur um sie hier zu erschießen.

Diese radikale Form von „Verbrechensaufklärung“ beflügelte insgeheim alle umlaufenden Legenden zum KirowMord, wobei viele hier die Hand Stalins am Werk sahen, der unerwünschte Zeugen und Mitwisser beseitigen ließ. Sergej Mironowitsch Kirow wurde ab sofort in der offiziösen Parteigeschichte verklärt. Die jetzt einsetzenden „Säuberungen“ mitsamt dem nachfolgenden „Großen Terror“ führten in der So-wjetunion allein bis zum Jahr 1938 zu mindestens 1,5 Millionen Verhaftungen (einige Schätzungen gehen sogar von Opfern in zweistelliger Millionenzahl aus), wobei wiederum mindestens die Hälfte der Verhafteten sofort die Todesstrafe erlitt oder die verhängte Lagerhaft nicht überlebte. Den Namen Kirow trägt bis heute die frühere zentralrussische Gebietshauptstadt Wjatka, in deren Nähe Kirow 1886 zur Welt kam.

Foto: Sergej Kirow (M.) mit Stalin im Urlaub, Foto von 1934: Mord aus Eifersucht

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