© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Die Leser emanzipieren sich
Ideologie, Propaganda, Meinungsmüll: Betrachtungen zum Niedergang der sogenannten Qualitätspresse
Thorsten Hinz

Als am 17. Juni 1953 der Zug der Berliner Bauarbeiter den Sitz des Schriftstellerverbandes erreichte, rief dessen Verbandssekretär Kurt Barthel – ein Parteibarde, der sich „Kuba“ nannte – panisch bei Bertolt Brecht an. Der konnte den Betonkopf nicht leiden und habe, so die Überlieferung, gespottet: „Kuba, deine Leser kommen!“

Heute sorgen die Leser für Panik in den Redaktionsstuben, indem sie ausbleiben. Höchstens schreiben sie wütende E-Mail-Kommentare, die aber immer seltener freigeschaltet werden. Nur die Hooligans der HoGeSa rufen noch ganz klassisch: „Deutsche Presse, halt die Fresse!“, und knüpfen an die „Lügner, Lügner!“-Rufe an, die 1989 den SED-Journalisten entgegenschallten.

Die Journalisten schreiben ihren Bedeutungs- und Ansehensverlust dem Internet sowie einer Gratis- und Pöbelmentalität zu. Sie können nicht damit umgehen, daß der Nichtkauf der Zeitung häufig eine bewußte politische Entscheidung ist.

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier gehört zu den halben Ausnahmen. Er schreibt in der FAS, aus „Journalismusverdrossenheit (sei) Journalismusverachtung geworden – und Journalistenverachtung“. Eine „volle Ladung Haß“ sieht auch der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der Zeit auf den Berufsstand niedergehen. „Blutrausch und Medienbestie, Hetzjagd und Meute, Kampagne und Rudel – das sind Vokabeln, die hier auftauchen und zur Schwarzweiß-Zeichnung eingesetzt werden.“ Pörksens Auswahl ist jedoch einseitig. Er zählt nur Begriffe auf, die sich gegen üble Äußerlichkeiten des Journalismus richten, und unterschlägt jene, die auf seine Substanz abzielen: Meinungshuren, Mietmäuler, Berufslügner.

Synthese aus Blindheit und Nervosität

Die Leserwut und die Kaufabstinenz zeitigen Wirkung. Internetkommentare kann man löschen, doch Verkaufszahlen bleiben unhintergehbar. Laut dem Branchendienst Meedia hat die FAZ 2014 gegenüber dem Vorjahr knapp 14 Prozent ihrer Leser verloren, bei der Welt und der Süddeutschen Zeitung sieht es kaum besser aus, bei der taz sind es laut IVW-Angaben drei Prozent Verlust. Hält der Trend an und bleiben Quer- oder Fremdfinanzierungen aus, ist die überregionale Tagespresse bald am Ende. Die Aussicht bereitet Angst, die am Selbstwertgefühl nagt und – Löschtaste hin oder her – kritikempfindlich macht.

Ein Beispiel für die Synthese aus Blindheit und Nervosität gibt Hans Leyendecker von der Süddeutschen. Er ereifert sich über „den bösen Blick“ der anonymem Netz-Kommentatoren, über die „permanent Übelgelaunten“, die „scheinbar immun (sind) gegen die Idiotie, die sie nicht ohne Kummer bei den anderen diagnostizieren“. Er empört sich, daß Satiriker im ZDF die Dissertation „Meinungsmacht“ von Uwe Krüger (JF 22/13) aufgegriffen und US- und Nato-affine Seilschaften in der FAZ, Welt, Zeit und in der Süddeutschen öffentlich gemacht haben. Verschwörungstheorien und Paranoia breiteten sich „ölfleckartig“ aus, meint Leyendecker.

Nun, Krüger hat nachgewiesen, daß vier namentlich genannte Journalisten regelmäßig die Beschlußlagen beziehungsweise Wünsche der Nato und des Pentagon propagieren, daß sie die Bundesregierung aus der Nato-/US-Perspektive beurteilen und kritisieren und so als Akteure transatlantischer Netzwerke agieren. Leyendecker hält das wohl für die natürlichste Sache der Welt.

Viele Medien, konstatiert Niggemeier, scheinen noch nicht zu ahnen, „wie groß die Erosion des Vertrauens in ihre Arbeit ist und daß dieses Vertrauen die Grundlage für alles ist“. Selber bleibt er in Detailkritik stecken, wenn er dafür nur „unbestreitbare journalistische Fehlleistungen“ verantwortlich macht und bestreitet, daß es sich um ein „System“ handele. Es seien die „Fehler, Pannen und Verfehlungen einzelner“. Vehement verteidigt er den Eliteanspruch nicht näher begründeter „seriöser Medien“, denn die „Gefahr für uns alle ist, daß Menschen, die ihnen nicht mehr glauben, alles glauben“.

Große Medien sind faktisch gleichgeschaltet

Das ist wohl ein Wink mit dem Zaunpfahl, die sogenannte Qualitätspresse nötigenfalls aus öffentlichen Geldern zu finanzieren. Pörksen argumentiert ähnlich und nennt die „hartnäckigen Recherchen in der NSA-Affäre“ sowie „die Aufbereitung des NSU-Prozesses“ als „Beispiele für einen (im Vergleich zu anderen europäischen Ländern) oft mustergültigen, gleichermaßen orientierenden und informierenden Journalismus“.

Was für ein Unsinn! Die NSA- wie zuvor die Wikileaks-Enthüllungen wurden den deutschen Journalisten auf dem Silbertablett serviert. Von ihrer politischen und historischen Dimension zeigen sie sich völlig überfordert, stellen sie doch die Kategorien in Frage, in denen sie zu denken und zu schreiben gelernt haben. Willy Brandt trat 1974 als Bundeskanzler zurück, nachdem in seiner Umgebung ein Spion enttarnt worden war. Er wollte den Anschein vermeiden, daß ein deutscher Kanzler erpreßbar ist. Was vor diesem Hintergrund das Abhören höchster deutscher Politiker durch die NSA bedeuten könnte, wagen vermeintliche Qualitätsjournalisten nicht einmal in Frageform zu kleiden.

Auch in der sogenannten NSU-Affäre sind sie stets nur als Briefträger behördlicher Behauptungen und als Transmissionsriemen der zivilreligiösen Überhöhung tätig gewesen. Mit Vorliebe ziehen sie sich hinter den Kampfbegriff „Verschwörungstheorie“ zurück, ohne Verschwörungspraktiken überhaupt in Erwägung gezogen zu haben.

Es gibt Gründe, sich den USA näher zu fühlen als Rußland, doch um die russische Außenpolitik realistisch zu beurteilen, muß man genauso die Rußland-Strategie der USA in Rechnung stellen. Wer die Warnungen von Altkanzler Gerhard Schröder vor einer Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen durch den Hinweis auf dessen Tätigkeit bei Gasprom abserviert, gleichzeitig aber die ukrainischen Gasgeschäfte von Hunter Biden, Sohn des US-Vizepräsidenten, unterschlägt, will nicht über Zusammenhänge aufklären, sondern agitieren.

Auch in Sachen Asylmißbrauch, Ausländerkriminalität, Euro und EU, Conchita-Wurst-Euphorie, antiislamistische Bürgerproteste usw. sind die großen Medien faktisch gleichgeschaltet. Zuletzt wurde eine Bertelsmann-Studie, welche die Zuwanderung als Segen für die deutschen Sozialkassen anpreist, durchweg wie eine göttliche Offenbarung gehandelt. Von dieser systemischen Propaganda emanzipieren die Zeitungsleser sich gerade.

Das Erstaunliche ist, daß sie trotzdem ungerührt weitergeht und die Hoffnung, durch Kaufverweigerung mehr Wirklichkeitsnähe und Pluralismus erzwingen zu können, sich als irrig erweist. Der ehemalige Feuilleton-Chef der Zeit, Fritz J. Raddatz, notierte 1997 über seine Berufskollegen: „(...) sie wollen die ganze Welt belehren und sind doch (meist) selber ganz kleine Leute. Sie rufen ‘Herr Kohl darf nicht ...’ oder ‘Präsident Chirac muß ...’ und haben Angst, auf die Straße gesetzt zu werden. Nimmt man ihnen die verliehene Macht, sind sie kümmerlich und bangen um die Rate, das Reihenhaus abzubezahlen. Die verliehene Macht – die kommt immer vom Inhaber; also vom Geld.“

Für Alternativen öffnet sich ein neues Fenster

„Geld“ ist als Sammelbegriff für ökonomische, politische und Finanzmächte zu verstehen. Die Abhängigkeit und die negativen Charakterzüge treten in Zeiten verschärfter Existenzangst noch krasser hervor. Es geht dem Journalismus weniger denn je um Realitätsnähe, Information und Reflexion, nicht einmal mehr um Desinformation. Indem er eine eherne Tautologie des Ideologie- und Meinungsmülls verbreitet, demonstriert er die Beständigkeit der Machtverhältnisse und führt Andersdenkenden die Sinnlosigkeit ihres Aufbegehrens vor Augen. Als Instrumente des Psycho- und geistigen Bürgerkriegs bleiben Zeitungen und Journalisten also weiterhin wichtig.

Deswegen wird die überregionale Tagespresse nicht gänzlich verschwinden. Der Abschmelzungsprozeß wird zwar weitergehen und sich als Ausleseprozeß erweisen, in dessen Verlauf die Willigsten und Geschmeidigsten für brauchbar befunden werden. Die können dann mit dem Kalkül und dem Geld politischer und wirtschaftlicher Instanzen, Machtzentren und Netzwerke rechnen. Schon jetzt sollte man sich darin einüben, Zeitungsartikel zu dekodieren, so wie man früher die SED-Presse auf indirekte Botschaften und auf Ungesagtes überprüft hat.

Für alternative Medien aber öffnet sich dadurch ein neues Fenster der Möglichkeiten.

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