© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

Das Leben geht weiter
Besuch in Donezk: Trotz Granateinschlägen setzen die Einwohner der Stadt auf Normalität
Billy Six

Erst ein markerschütterndes Heulen – dann ein lautes Krachen, als würde eine Stahlplatte auf einen Glascontainer stürzen. Mörsereinsätze im Kampf um den Flughafen von Donezk, Ostukraine. Hier liefern sich die Armee der Kiewer Regierung und prorussische Rebellen ihre vorerst letzte Schlacht um die Industriestadt mit einst 1,1 Millionen Einwohnern.

Vom Feldrand des Außenbezirks Oktjaberskaja ist der schwarze Rauch gut zu sehen – und einige Löcher von Granateinschlägen im Ackerboden. Schachtarbeiter Vitali zeigt linkerhand auf Piasky, sein Heimatdorf: „Dort hinten steht die Armee“, so der 45jährige, der wie viele der hart schuftenden Männer des Kohlereviers älter aussieht.

Vitali ist bei Freunden untergekommen, seine Arbeitsstätte, die „Oktober-Mine“ geschlossen. Sicher ist auch das neue Domizil südlich der Kampfzone nicht: Viele Häuser sind verlassen, einige zerbombt. „Wir sind dankbar für jeden neuen Tag“, sagt der Arzt Alexander vom lokalen Krankenhaus Nr. 21.

Vergangene Woche habe eine Granate der Regierungstruppen den A-6-Zubringerbus in der Marschall-Schukow-Allee getroffen. Ein Rentner und ein Jugendlicher seien getötet worden, sechs weitere Zivilisten wurden verletzt, darunter vier Krankenschwestern, die nun im eigenen Spital behandelt werden. Angesichts des massiven Feuers durch Kämpfer der „Donezker Volksrepublik“ mit ihren mobilen Granatwerfern und Haubitzen erscheint die Reaktion der ukrainischen Streitkräfte zur Zeit eher zurückhaltend.

Rebellenchef Alexander Chodakowski, Kommandeur des Bataillons „Wostock“ (russ. Osten), wertet dies auf einer Pressekonferenz als Erfolg. Der „andauernde Beschuß ziviler Einrichtungen in den Vororten Pantelejmonovka und Avdejevka“ sei beendet worden. Chodakowski betont, die ukrainischen Soldaten „als Menschen“ anzusehen. Sein Wunsch, so der ehemalige Chef einer „Alpha“-Spezialeinheit im ukrainischen Geheimdienst SBU, sei ihr friedlicher Abzug.

Mit den „slawischen Brüdern“ ließen sich alle Probleme lösen, wenn sich die Kiewer Führung dem „Einfluß der USA“ entzöge. Seine Volksrepublik lege gegenüber dem „Mutterland Rußland“ ebenfalls Wert auf Unabhängigkeit. Der Krieg könne nur im rein nationalen Dialog entschärft werden. Kurze Nachricht an die Westukrainer: „Wir bauen kein sozialistisches Land auf. Aber es ist uns gelungen, die Oligarchen zu vertreiben und das korrupte System zu reinigen“: Das seien erklärte Ziele des „Euro-Maidan“.

Die „Einladung an alle ukrainischen Geschäftsmänner“, ihre Arbeit fortzusetzen, wirft eine entscheidende Frage auf: Wie steht es um Rinat Achmetow, den nach Kiew geflohenen, bisweilen reichsten Mann des Landes? Sein Fußballstadion, die „Donbass-Arena“, ist zwar geschlossen, doch andere Geldquellen wie das Wärmekraftwerk von Sugres würden wie gehabt weiterbetrieben, ist vor Ort zu erfahren.

An unerwarteter Stelle ruft sich der „Pate des Donezbeckens“ ins Bewußtsein zurück: In einer leeren Boutique, gegenüber der Statue des Regionalhelden Artjom stehen einige hundert Bedürftige Schlange, um sich ihr Essenpaket abzuholen. Die 20 „Freiwilligen“ tragen gelbe Jacken mit der Aufschrift: „Hilfe kommt. Das humanitäre Hauptquartier von Rinat Achmetow.“

Einrichtungen wie diese erhalten den sozialen Frieden in der Großstadt. Von einer „humanitären Katastrophe“, wie sie der aktuelle Präsident Poroschenko im ARD-Gespräch beschrieb, kann im Moment keine Rede sein. Strom, Wasser und Gas laufen. Viele Supermärkte, Cafeterien und Bars sind tagsüber geöffnet. Die Einreise mit einem Bus vollzog sich problemlos – die Rebellen kontrollierten nur sporadisch. Im Zentrum rollt der Verkehr, adrette Mädchen zeigen auch bei Temperaturen weit unter Null nackte Beinpracht. Die Innenstadt bildet, von der nächtlichen Leere abgesehen, eine Insel der Normalität. Das Dröhnen der Geschosse klingt von hier nur wie ferner Donner.

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