© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/14 / 05. Dezember 2014

„Wir Opfer können es nicht fassen“
In Thüringen bahnt sich ein Tabubruch an: eine Regierung unter Führung der ehemaligen SED. Was sagen eigentlich die DDR-Verfolgten dazu?
Moritz Schwarz

Herr Diederich, warum sitzen Sie derzeit eigentlich nicht in jeder zweiten Talkshow?

Diederich: Eine gute Frage, die ich mir ehrlich gesagt auch stelle.

Würde sich eine ehemals rechtstotalitäre Partei anschicken, eine Landesregierung zu übernehmen, würden aller Erfahrung nach die Medien unermüdlich die ehemaligen Opfer befragen, was sie dabei empfinden.

Diederich: Genau so ist es. Dabei meine ich nicht, daß ich in die Medien müßte, sondern allgemein Vertreter der SED-Opferverbände. Aber wir werden grundsätzlich nicht ins Fernsehen eingeladen.

Tatsächlich?

Diederich: Ist Ihnen das noch nie aufgefallen?

Dort sind doch öfter DDR-Opfer zu sehen.

Diederich: Zeitzeugen ja, aber keine Vertreter der Opferverbände.

Warum nicht?

Diederich: Das fragen Sie mal bitte die Verantwortlichen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Sie wissen es nicht?

Diederich: Es gibt keine offizielle Begründung. Es wird einfach nicht gemacht. Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, Bodo Ramelow – Vertreter der ehemaligen SED erhalten ständig Einladungen, Opfervertreter dagegen müssen draußen bleiben.

Aber Sie sitzen für die Opferverbände doch zum Beispiel im ZDF- Fernsehrat!

Diederich: Richtig, aber da bin ich einer von 77. Natürlich habe ich dort darauf hingewiesen.

Welchen Grund vermuten Sie denn?

Diederich: Vermutlich paßt denen unsere Rhetorik nicht.

Inwiefern?

Diederich: Wir nehmen kein Blatt vor den Mund. Wir sind denen wohl zu antikommunistisch. Natürlich ist man hierzulande nicht für den Kommunismus, aber bitte schön auch nicht antikommunistisch. Das ist verdächtig. Dabei ist der Antikommunismus ebenso ehrenwert wie der Antifaschismus.

Andere Opferverbände werden doch auch eingeladen.

Diederich: Andere Opferverbände haben auch eine Lobby.

Die DDR-Opfer nicht?

Diederich: Nein. Das sehen Sie doch am Fall Thüringen.

Joachim Gauck ist Bundespräsident.

Diederich: Gauck ist kein DDR-Opfer.

Er hat gerade öffentlich betont, wie vielen Menschen eine Linken-Regierung Unbehagen bereiten würde.

Diederich: In seiner Festrede zum Mauerfall hat Gauck mit keiner Silbe die politischen Häftlinge erwähnt. Aus Erfahrung haben wir das auch nicht erwartet. Getroffen hat es uns dennoch.

Aber ehemalige DDR-Bürgerrechtler gelten bei uns doch als moralische Instanzen.

Diederich: Es ist typisch, daß Ihnen beim Stichwort DDR-Opfer als erstes die Bürgerrechtler einfallen. Ich anerkenne deren Mut, Leistungen und welchen Gefahren sie sich ausgesetzt haben. Aber die meisten von ihnen lebten dennoch recht komfortabel zu Hause. Sie saßen nicht wie wir in einem Loch, wurden nicht geschlagen, gefoltert, mußten keine Zwangsarbeit leisten und wurden auch nicht zum Tode verurteilt oder – an der Grenze – abgeknallt wie die Hasen.

Sie meinen, unsere Fixierung auf die Bürgerrechtler verstellt die Erinnerung an die große Mehrheit der Häftlinge?

Diederich: Häufig ist das leider so.

Warum?

Diederich: Zum einen saßen die Bürgerrechtler Ende 1989 an den Runden Tischen im Fokus der Kameras der internationalen Medien, wir dagegen meist noch unsichtbar im Bau. Zum anderen hat das wohl auch mit den Vorlieben unserer Medienschaffenden zu tun.

Inwiefern?

Diederich: Na ja, viele Bürgerrechtler wollten bis zuletzt – manche sogar noch nach dem Ende der DDR – einen eigenen linken, sozialistischen Staat. Die Häftlinge dagegen wollten immer ein wiedervereinigtes Deutschland.

Sind sie beleidigt, weil Ihnen die entsprechende Anerkennung vorenthalten wird?

Diederich: Wir sind nicht beleidigt, wir sind verletzt. Wenn es jetzt um Thüringen geht, werden sogar Leute wie Friedrich Schorlemmer, Wolfgang Thierse oder Richard Schröder von den Medien befragt, die nicht einmal Bürgerrechtler waren, sondern erst kurz vor oder gar nach dem Mauerfall aktiv geworden sind, während wir ignoriert werden. Es ist wirklich grotesk!

Haben die politischen Häftlinge denn etwas mit dem Mauerfall zu tun?

Diederich: Was für eine Frage! Mit ihrem Widerstand, der sie ins Gefängnis gebracht hat, waren die politischen Häftlinge wie kleine Mosaiksteine maßgeblich am Zerfall der DDR-Diktatur beteiligt. Es ist ein fatales Signal, wenn diese Menschen heute nicht in den Mittelpunkt des Erinnerns gestellt werden. Denn dann heißt die Botschaft: Nicht Widerstand, Mitläufertum lohnt.

Wenn sonst keiner fragt, dann hier jetzt die Frage: Was empfinden die Opfer angesichts der Entwicklung in Thüringen?

Diederich: Tja ... welche Worte soll man finden ... Enttäuschung ist noch viel zuwenig. Die meisten Opfer können es nicht fassen, sie fühlen sich betrogen, hilflos und zutiefst gedemütigt von dem, was da vor sich geht. Wir fühlen uns alleingelassen von einer Gesellschaft die sich offenbar daran gewöhnt hat, die Linke als normal zu betrachten.

Und das ist sie nicht?

Diederich: Nein, das ist sich nicht! Die Linke ist die Partei von Diktatur, Willkür und Mord. An dieser Partei klebt Blut. Und dieses Blut verschwindet nicht einfach, auch nach 25 Jahren nicht. Es ist ein Akt der Entsolidarisierung, daß die Gesellschaft bereit ist, mit jener Partei, die uns drangsaliert und gequält hat, ihren Frieden zu machen.

Aber die Mehrheit der Mitglieder der Linken heute war nie Mitglied der SED.

Diederich: Das spielt keine Rolle. Wer jung und links ist, soll sich eine andere Partei suchen und nicht in eine eintreten, in der er neben alten Kadern sitzt, die Diktatur und Mord zu verantworten haben! Das ist eine Frage der Moral. Wer ist denn bis heute Ehrenvorsitzender dieser Partei? Hans Modrow! Schon vergessen? Aber selbst wenn es nur noch ein einziges altes SED-Mitglied in der Linken gäbe – es ist und bleibt die SED!

Sie meinen SED-Nachfolgepartei.

Diederich: Eben nicht! Es ist die SED! Die SED wurde nie aufgelöst, nur umbenannt. Das Gerede von der „SED-Nachfolgepartei“ ist nichts als gewollte oder gedankenlose Geschichtsklitterung, die sich durchsetzt, wenn die Opferverbände in der Öffentlichkeit keine Stimme bekommen, um das zurechtzurücken. Das geht bereits so weit, daß man immer öfter als politischer Querulant betrachtet wird, wenn man sich erlaubt, auf dieses Faktum hinzuweisen. Dabei hat die Linkspartei diese Kontinuität sogar juristisch besiegeln lassen, um im Genuß des SED-Vermögens zu bleiben. Der thüringische SPD-Abgeordnete Stefan Sandmann, Kritiker einer Koalition der Linken, fragt völlig zu Recht: „Wo sind denn die Gewinne aus der DDR-Zwangsarbeit, der Zwangsenteignungen und der Flüchtlingsverkäufe geblieben? Auf den Konten der Linken!“

Sandmann organisiert auch die Großdemonstrationen in Erfurt gegen Rot-Rot-Grün. Sind Ihre Leute da auch dabei?

Diederich: Natürlich! Und wir sind sehr froh, daß es auch noch Sozialdemokraten gibt, die das historische Bewußtsein nicht verlassen hat. Denn schlimmer als die Linke sind für uns Opfer die Grünen und die SPD in Thüringen, die der Linken den Weg erst freimachen. Von der Linken wissen wir, was wir halten sollen, aber daß Grüne und SPD sich dafür hergeben, ist abstoßend! Und es ist bizarr, denn keine Partei hat unter der SED so gelitten wie die SPD, deren Mitglieder, die sich der Zwangsvereinigung widersetzt haben, brutal verfolgt wurden. Und was die Grünen angeht: Die sind in den neuen Ländern eigentlich Bündnis ’90, also die Partei der Bürgerrechtler – und ausgerechnet die verhelfen der SED nun zur Macht? Es ist absurd!

Immerhin haben SPD und Grüne der Linken abgerungen, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen. Friedrich Schorlemmer meint, „man sollte respektieren, daß das den Linken ziemlich viel zugemutet hat“.

Diederich: In meinen Augen ist diese Erklärung das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Die Ex-Stasi-Leute und SED-Kader in der Partei schlagen sich doch auf die Schenkel und lachen sich tot über die Naivität der Öffentlichkeit.

Tatsächlich bringen SPD und Grüne mit der Linken auch zwei ehemalige IM – Ina Leukefeld und Frank Kuschel – in die Regierungsfraktion. Kritiker fordern eine Distanzierung der Partei von solchen Leuten.

Diederich: Es geht nicht um IM oder die Stasi, es geht um die SED. Einer der schlimmsten Mythen ist, nicht die Partei, sondern die Staatssicherheit sei der menschenfeindliche Faktor gewesen – entstanden am Ende der DDR durch die Machenschaften der SED-Genossen, die einen Sündenbock suchten. Nein, die SED war das Machtzentrum, sie hat die Entscheidungen getroffen.

Immerhin hat sie 1989 nicht schießen lassen. Legitimiert sie das nicht für eine zweite Chance?

Diederich: Auch diese angebliche humane Einsicht der SED ist ein Mythos. Die SED hat nicht aus menschlichen Skrupeln nicht geschossen, sondern weil sie es sich nicht mehr getraut hat. Weil die Rückendeckung aus Moskau fehlte – das war der Grund! Wären Moskau und Ost-Berlin nicht pleite gewesen, wäre höchstwahrscheinlich sehr wohl geschossen worden. Die Wahrheit ist, die Genossen wußten, daß sie bereits am Ende waren – aber nicht wegen der Bürgerrechtler, sondern wegen der ökonomischen Lage. Der Zusammenbruch war unabwendbar, und wenn sie jetzt schießen lassen würden, dann wären sie nach dem Ende wirklich dran. Die haben nicht an die Menschen auf den Straßen gedacht, sondern daran, den eigenen Kopf aus der Schlinge zu bekommen.

Immerhin gilt die DDR heute als „kommode Diktatur“ mit „Samthandschuhen“.

Diederich: Wenn ich so etwas höre, dann denke ich etwa an eine Dame in unserem Verband, die von 1947 bis 1962 in Haft war: Über 15 Jahre weil sie einen englischen Freund hatte! Und die „schönste“ Zeit davon – man glaubt, man hört nicht recht – war die im sowjetischen Speziallager, wie sie erzählt. Denn da hätte sie sich mit anderen Häftlingen unterhalten und ab und zu einen grünen Halm sehen dürfen. Während sie später in der DDR in Gefängniskellern in Einzelhaft zu verrotten drohte. In der DDR gab es geheime Hinrichtungen, Mauermorde, Auftragsmorde, Entführung, Folter, Schläge, Lagerhaft, Gefängnishaft, Zwangsarbeit, Zwangsadoption, Säuglingstötung, Zersetzung, Enteignung – die Liste der Verbrechen ist lang. Von „kommod“ und „Samthandschuhen“ kann keine Rede sein.

Diese Historie ist schrecklich, aber können Sie nicht verstehen, daß SPD und Grüne in Thüringen eben endlich eine linke Regierung auf die Beine bringen wollen?

Diederich: Eine Regierung mit der Linken ist keine linke Regierung, sondern eine Täter-Regierung! Es geht nicht um links oder rechts, sondern um Täter und Opfer – begreift das doch endlich mal!

Warum begreifen wir das nicht?

Diederich: Ich weiß es nicht, aber es ist furchtbar, festzustellen, wie wenig Verständnis es für die Opfersicht gibt. Und daß offenbar die SED, nicht wir Opfer, in dieser Gesellschaft besser angekommen ist. Das hätten wir uns niemals träumen lassen.

Ist sich die Gesellschaft dieses Unsolidarischseins mit den Opfern bewußt?

Diederich: Vermutlich nicht. Das ist die Gedankenlosigkeit. Bei Fernsehdokumentationen um 23.30 Uhr wird der Opfer voller Anteilnahme gedacht, aber das hat keinen wirklich durchschlagenden solidarischen Effekt im Alltag. Da gelten wir schnell als Spinner.

Was fordern Sie? Daß die Linke sich bei den Opfern entschuldigt?

Diederich: Nein, wir wollen keine Entschuldigung. Wir wollen, daß die, die uns gequält haben, endlich verschwinden!

 

Hugo Diederich, ist stellvertretender Bundesvorsitzender der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus – Gemeinschaft von Verfolgten und Gegnern des Kommunismus“ (VOS) sowie deren Landesvorsitzender in Berlin. Die VOS (Logo rechts) ist der Verband ehemaliger Häftlinge in DDR, SBZ und UdSSR. Wegen Fluchtversuchs saß Diederich elf Monate in DDR-Haft, bevor die Bundesrepublik Deutschland ihn im Juni 1987 freikaufte. Geboren wurde der Diplomkaufmann 1954 im thüringischen Eichsfeld. Ab 2006 führte er den 1990 in Leipzig gegründeten Häftlingsverband „Bund der Stalinistisch Verfolgten“, der 2009 in der VOS aufging. Diese wurde 1950 in West-Berlin von ehemaligen Insassen sowjetischer Speziallager gegründet. Obwohl die Gesamtzahl der politischen Häftlinge der DDR auf 250.000 bis 300.000 geschätzt wird, hatte die VOS nie mehr als 4.000 Mitglieder, heute sind es altersbedingt noch etwa 1.400.

Foto: Linke-Delegierte in Erfurt: „Es ist ein Akt der Entsolidarisierung, daß die Gesellschaft bereit ist, mit der Partei, die uns drangsaliert und gequält hat, ihren Frieden zu machen.“

 

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