© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

Ein freier Geist sucht neue Wege
Arthur Hoyle hat eine beeindruckende Biographie des US-Autors Henry Miller vorgelegt
Claas Nordau

Henry Miller: Macho! Pornograph! Arthur Hoyle ist da ganz anderer Meinung. Er findet, daß Henry Miller als Autor „undeservedly neglected“ ist und hat über dreißig Jahre nach dessen Tod 1980 eine Biographie verfaßt, die das ändern soll. Hoyle lebt in Pacific Palisades, dem letzten Wohnort Millers, und beschäftigt sich eher nicht mit Pornographen. Was ihn interessiert, sind kalifornische Ureinwohner, englische Literatur und Persönlichkeiten der amerikanischen Gesellschaft.

Hoyle ist auch Dokumentarfilmer und sein literarisches Biopic eine akribisch recherchierte Montage aus Millers Originaltexten, Textanalysen, Briefzitaten und erzählendem Kommentar. Hoyle sucht, was bisher vernachlässigt wurde und findet einen Autor, der den Konventionen der Gesellschaft eine Weltsicht entgegensetzt, die – gut versteckt – primär die Botschaft der Selbstbefreiung, nicht der Selbstbefriedigung, erkennen läßt. Bestätigung dieser Sichtweise fand Miller weltweit bei den Lesern, die seine Arbeit als Denkanstoß empfanden und begriffen, daß er Sexualität nicht den Wertungskategorien „unmoralisch“ oder „moralisch“ unterwarf, sondern als amoralisch-amorphe Lebensenergie verstand, die zur Erlangung des Bestmöglichen genutzt und nicht verdrängt werden sollte.

USA werden bevorzugtes Objekt seiner Haßliebe

Kindheit und Jugend interessieren Hoyle nur am Rande. Deren Beschreibung kann Miller ohnehin besser. Er konzentriert sich auf zwei Hauptschaffensperioden, die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und die Zeit im kalifornischen Big Sur. Er beginnt mit einem Knüller: Miller in Paris 1936 im Bewußtsein, seine Berufung als Schriftsteller gefunden zu haben. Er schreibt an Huntington Cairns von der amerikanischen Zensurbehörde, um ihn zu bitten, den „Wendekreis des Krebses“ – den Roman, der seinen literarischen Durchbruch markiert, seit 1934 in den USA aber als „obszön“ eingestuft ist – vom Index zu nehmen. Cairns, selbst Literat und Fan des Buches, verspricht, Miller zu helfen, organisiert sogar eine Ausstellung von Millers Aquarellen, ist aber politisch machtlos. Erst Anfang der sechziger Jahre und nach einer Reihe von Prozessen wird er gekippt.

Auch wenn ihm der Zweite Weltkrieg keine andere Wahl läßt, als Europa zu verlassen: In der Rückschau erscheint es angesichts aller Widerstände nur folgerichtig, daß Miller in das Land, aus dem er nach Paris flüchtete, bevorzugtes Objekt seiner Haßliebe, zurückkehren und dort seine Anerkennung erkämpfen muß.

Nach einer Reise durch die Vereinigten Staaten schreibt er den „Klimatisierten Alptraum“, läßt sich 1944 in Big Sur – völliger Neubeginn für einen Großstadtmenschen in fast paradiesischer Wildnis – nieder, wird Teil einer Art demokratischer Aussteigergemeinde und Identifikationsfigur für eine Leserschaft junger, desillusionierter Weltkriegsveteranen.

Der Umzug fällt in die Zeit des beginnenden Kalten Krieges und der McCarthy-Ära. Während im benachbarten Hollywood (wo Miller Freunde in der Filmbranche hat, die ihn materiell unterstützen) Jagd auf Kommunisten gemacht wird, stempelt man ihn zum „West Coast Bohemian“ mit neofaschistischen Tendenzen. Ein areligiöser, apolitischer Schriftsteller, der die Zivilisation mit einem Krebsschaden vergleicht, zu dem Menschen pilgern und der sein Heimatland so skeptisch sieht und beschreibt wie er – das weckt den Argwohn der Gesellschaftskaste, die qua Religion, Parteienlobbyismus und dem unerschütterlichen Glauben an die normative Macht des Geldes ihre Einflußmöglichkeiten behalten will.

Jemand, der auf die heiligen materiellen Werte der amerikanischen Konsumgesellschaft pfeift und Lebensfreude propagiert, stellt eine Gefahr dar, die mit allen Mitteln bekämpft werden muß. Ein Mechanismus, der heute wie damals funktioniert, und auch in Zeiten sexueller Übersättigung via Youporn & Co. (vielleicht ist kalkulierter Exhibitionismus auch eine Form der Selbstbefreiung) nichts an Wirksamkeit verloren hat. Daß jemand selbständig denkt und sich nicht dem Mainstreamdiktat gelenkter Demokratie unterwirft, wurde von denjenigen, die von der Lenkbarkeit ihrer Untertanen profitieren, zu allen Zeiten als Gefahr eingestuft.

Miller fühlte sich zeit seines Lebens dem französischen Humanisten und Satiriker François Rabelais verwandt, der seinerzeit die Heuchelei der Mächtigen der Renaissance verspottete. Daß ein freier Geist in Big Sur tatsächlich nur nach neuen Wegen suchte, fiel bei soviel politischer Hysterie erst ein halbes Jahrhundert später einem Mann namens Arthur Hoyle auf (der Untertitel seiner Biographie unterstellt, daß Miller wie alle großen Künstler ein „Seeker“, ein Suchender, war).

Im Gegensatz zum Establishment, das in Millers Person die Gefährdung gesellschaftlicher Grundwerte verkörpert sieht, bewundert eine wachsende Leserschaft seine provokante Vulgarität (die nie zynisch ist, nur formuliert, was zu dieser Zeit niemand zu formulieren wagt), ebenso wie die Ablehnung einer „geld-verrückten“ (money-mad) Gesellschaft. Daß in dieser Phase sein Alterswerk, die Trilogie „Sexus“, „Plexus“, „Nexus“, eine gereifte Erweiterung der „Wendekreise“ aus der Pariser Epoche, entsteht, zeigt monolithisches Selbstvertrauen, auch wenn Miller in dieser Zeit mehr Bettelbriefe als Texte verfaßt und sich mit dem Verkauf seiner Aquarelle über Wasser hält.

Arthur Hoyle betreibt alles andere als Denkmalpflege, das macht sein Buch glaubhaft. Henry Miller verliert dabei nicht. Ganz gleich, ob man erfährt, daß er – seit Paris ein Astrologieverrückter – keine Reise ohne die richtige Planetenkonstellation antritt. Ganz gleich, ob Anaïs Nin, Ex-Geliebte und Förderin ihn brieflich tadelt, weil er die Möglichkeit, in Hollywood als Drehbuchautor Geld zu verdienen, schnell aufgibt (aber in Gary Cooper den Schauspielertyp verkörpert sieht, der am ehesten seinen Vorstellungen eines echten Amerikaners entspricht), ganz gleich, ob ihm Renate Gerhard, eine Lektorin seines deutschen Verlegers Rowohlt, in die Miller sich verliebt, brieflich klarmacht, daß sein Frauenbild viel zu stark von seiner Mutter geprägt ist, und sie sich deshalb eine Beziehung mit ihm nicht vorstellen will – ihn aber finanziell gehörig ausnimmt. Daß in Big Sur auch der Erfolg Millers beginnt, ändert nichts an der Tatsache, daß auch für einen mittlerweile 69jährigen Auflagenmillionär Kunst und Wirklichkeit nur selten harmonieren.

Miller (geboren 1891) wuchs in der deutsch-bayerischen Diaspora Brooklyns auf. Das hinderte ihn nicht daran, sich die bahnbrechenden Literaten seiner Epoche, Walt Whitman (auch dem wurde einmal wegen „Unsittlichkeit seiner Texte“ gekündigt), Knut Hamsun und Fjodor Dostojewski anzueignen und weiterzuentwickeln. Die Verklemmtheit seines Elternhauses und seiner Generation zu überwinden, neue Wege zu gehen, diesen Prozeß als Saga des Leidens und der Lebenslust zu beschreiben und Weltliteratur daraus zu machen: das ist sein Verdienst.

Hoyle sieht in Miller den Mann, der sich diesen Rang mit zäher Ausdauer wie ein echter Pionier erarbeitet hat. Wenn die Abenteuer seines Ich-Protagonisten bei aller Nähe zu Millers realem Leben manchmal den Helden eines Schelmenromans ähneln – um so besser. Nicht bigger than life, nur „mehr als Realität“, das ist der Anspruch, der ihn trägt. Mal in der deftigen Schilderung eines Geschlechtsakts, der wohl über jedes puritanische Postulat menschlicher Reproduktionspflicht hinausgeht, mal in düsterem Pessimismus, mal in ekstatischen, fast surrealen Wortkaskaden.

„Man kann die Welt nicht ändern“, resümiert Miller in einem seiner unzähligen Briefe, aber „wir können uns ändern“. Schade, wenn solche Einsichten in einer schnellebigen Welt von Selfies, Tweets und selbsternannten Schreibfabrikanten tatsächlich „unverdientermaßen vernachlässigt“ in Vergessenheit geraten sollten. Henry Miller, der Humanist und Philosoph der „Weisheit des Herzens“ und der Liebe zum Leben mit all seinen Facetten – auch der Pornographie – hat davon noch mehr. Charlotte Roche und Ronald Barnabas Schill üben schließlich noch.

Arthur Hoyle: The Unknown Henry Miller – A Seeker in Big Sur. Arcade Publishing, New York 2014, gebunden, 384 Seiten, Abbildungen, 19,46 Euro

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