© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

Märtyrersuche in Minnesota
Somalia: Bei Nachwuchsgewinnung setzt die Al-Shabaab-Terrormiliz auf die Landsleute in der Diaspora
Marc Zöllner

Als die Rebellen kamen, fanden sie das kleine Dörfchen Kudha noch im Tiefschlaf vor. Die wenigen staubigen Straßen des Ortes waren wie leergefegt. Lediglich eine Handvoll Soldaten nutzte bereits die ersten Strahlen der Morgensonne, um ihre Posten an der Verkehrsanbindung zum Hafen zu beziehen. Von zwei Seiten sahen sie sich plötzlich eingekesselt, Kugeln zischten durch die Luft, Explosionen donnerten über die Strohdächer hinweg.

Wenige Stunden später, in den Mittagsstunden des achten November, war Kudha gefallen und mit ihm über fünfzehn Soldaten der Interimsregierung des Jubalandes im Südwesten Somalias, ebenso wie Dutzende Kämpfer der radikalislamischen somalischen Terrormiliz al-Shabaab. In einem siebenminütigen Video, welches im Laufe der Kämpfe um Kudha gedreht wurde, feiert diese ihren teuer erkauften Sieg bereits als Meilenstein. „Al-Shabaab hat die Kontrolle über Kudha übernommen“, mußte auch Abdinasir Serar Mah, der Sprecher der Jubalandarmee (IJA) resigniert einräumen.

Al-Shabaab will an „Erfolge“ anknüpfen

Zwar ist Kudha nur eine kleine, wenige hundert Einwohner umfassende Insel. Doch ihre strategische Bedeutung ist um so größer. Rund siebzig Kilometer westlich von Kismaayo, der wichtigsten Handelsstadt Somalias, gelegen, diente sie den Radikalislamisten in der vergangenen Zeit nicht nur als sicheres Rückzugsgebiet für ihre verwundeten Milizionäre. Sie war auch einer der bedeutendsten Schmugglerposten für Islamisten und Piraten sämtlicher Couleur am Horn von Afrika.

Von Kudha aus verschiffte al-Shabaab die im arabischen Raum begehrte somalische Holzkohle ebenso wie die Kaudroge Khat. Als im September 2012 Kismaayo von kenianischen Marineinfanteristen befreit wurde, verlagerte die Terrormiliz ihren strategischen ökonomischen Schwerpunkt auf Kudha. Sieben Jahre beherrschten die Islamisten die Insel, bis sie von der IJA im Sommer 2014 auf das Festland vertrieben wurde. Deren plötzliche Rückkehr glich einem Horrorszenario für die Bewohner Kudhas.

„Diese Extremisten lassen die Menschen jetzt leiden, denn sie sind wütend darüber, daß die Bürger sich über die Niederlage der Islamisten gefreut haben“, erklärte Urdan Kilas Gurase, der kommandierende Oberst der IJA.

Der Wunsch nach Zerschlagung al-Shabaabs ist im seit fast 25 Jahren von blutigen Bürgerkriegen verwüsteten Somalia mittlerweile zum allgemeinen Konsens geworden. Durch eine Vielzahl an Verbrechen gegen die Menschlichkeit befindet sich die Popularität der Radikalislamisten, die sich vor wenigen Jahren mit ihren Siegen gegen die äthiopische Armee noch Sympathien bei den Stammesoberen der Republik verdienten (JF 41/13), im freien Fall.

Selbst die Moral der Miliz scheint gebrochen: Im September versprach die somalische Regierung eine Amnestie für alle Kämpfer, die sich freiwillig dem Militär stellten. Fast 550 Mitglieder sämtlicher Ränge al-Shabaabs nutzten daraufhin bereits die Gelegenheit, aus dem Terrornetzwerk auszusteigen. Aufgrund der Amnestie des Präsidenten verlor al-Shabaab ein Zehntel ihrer Truppen.

Militärisch gilt die islamistische Miliz mittlerweile als geschlagen. Allein im Oktober töteten Angehörige der Regierungstruppen über 140 Rebellen nahe der Hafenstadt Kismaayo. In den vergangenen Monaten verlor al-Shabaab rund 70 Prozent der vormals von den Aufständischen gehaltenen Gebiete.

„Wir glauben, bis zum Jahresende zu benötigen, und anschließend noch drei oder vier Monate des kommenden Jahres, um den Rest der Gebiete zu befreien“, berichtete Mohamed Ali Haga, der Verteidigungsminister Somalias, vor vier Wochen stolz auf einer Konferenz in Äthiopien.

„Wenn ihr wüßtet wieviel Spaß wir hier haben“

Seit Oktober eröffnete die somalische Regierung überdies direkte Kanäle für Verhandlungen mit dem nichtmilitanten Flügel al-Shabaabs, um diesen in die politische Willensbildung des Landes mit einzubeziehen. „Doch al-Shabaab hat vorab zu erklären, daß es Teil der Lösung für Somalia sein möchte“, forderte derte Minister Ali Haga, „und nicht das Problem selbst.“

Der Überfall auf die Insel Kudha ist somit zur wichtigen Propagandaschlacht für den radikalen Flügel al-Shabaabs geworden. Noch am selben Tag wurde das Video im Internet veröffentlicht, wo es derzeit frei kursiert. Mit ihren Erfolgen möchte al-Shabaab, der in der Heimat die Felle davonzuschwimmen drohen, neue Rekruten für ihren Heiligen Krieg anwerben. Die Adressaten ihrer Botschaft hoffen sie von daher auch vorrangig im Westen zu finden; speziell in den somalischen Diasporagemeinden Kanadas und der Vereinigten Staaten.

Neben Denver in Colorado, aus welchem zuletzt drei somalische Mädchen am Frankfurter Flughafen unter dem Verdacht festgesetzt wurden, sich der radikalsunnitischen Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) anschließen zu wollen, gilt auch Minneapolis in Minnesota als einer dieser Brennpunkte. In Cedar-Riverside, idyllisch gelegen an den Ufern des Mississippi, lebt rund die Hälfte der rund 14.000 somalischen Flüchtlinge in den USA. Klein-Somalia wird dieser Stadtteil von den Minneapolitanern genannt. Jeder zweite Einwohner stammt vom Horn von Afrika.

Zwar haben sich die meisten Einwanderer den hiesigen Gesetzen angepaßt: Die Kriminalitätsrate spiegelt lediglich den Landesdurchschnitt wider, und auch islamischer Extremismus ist offiziell kein Thema. Doch immer wieder geraten somalische Jugendliche aus Cedar-Riverside, getrieben vom inneren Konflikt, zwischen zwei kulturellen Welten pendeln zu müssen, in die Fänge radikaler Anwerber.

„Diese Leute nutzen Twitter, sie nutzen Facebook, sie nutzen jede greifbare Möglichkeit, um ihre Botschaft in Computersystemen zu verbreiten“, bestätigt Omar Jamal, der Leiter der somalischen Diaspora in Minneapolis. Rund vierzig Jugendliche seien dem Aufruf al-Shabaabs bereits in der Hoffnung gefolgt, aus der Tristesse von Armut, Arbeitslosigkeit und Entfremdung in ein Leben voll Abenteuer ausbrechen zu können. Keiner von ihnen kam je zurück.

Troy Kastigar war der erste, der getötet wurde. Im September 2009 erwischte ihn eine Kugel bei Rückzugsgefechten im südlichen Somalia. Seine letzte Nachricht an seine Freunde in Cedar-Riverside wird seitdem als Propagandavideo unter dem Titel „Die Märtyrer von Minnesota“ von al-Shabaab über das Internet vertrieben. Die Botschaft ist unmißverständlich: „Wenn ihr Leute nur wüßtet, wieviel Spaß wir hier haben“, erzählt Troy, durch seine breite Zahnlücke grinsend. „Das hier ist das einzig wahre Disneyland!“

Foto: Martialischer Auftritt der Al-Shabaab-Miliz bei Mogadischu und Diaspora-Somalier in den USA (l.): Leben zwischen zwei Weltanschauungen

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