© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

„Das Volk ist der Boß“
Douglas Carswell ist der erste Abgeordnete der UK Independence Party im Unterhaus. Der ehemalige Tory hat sich für die Ukip erneut zur Wahl gestellt – und gewonnen
Moritz Schwarz

Herr Carswell, die United Kingdom Indepence Party hat mit Ihnen ihren ersten Unterhausabgeordneten. Allerdings: Mehr als symbolische Bedeutung hat das kaum, oder?

Carswell: Da widerspreche ich. Dieser erste Sitz verändert bereits viel.

Pardon, aber das Unterhaus hat 650 Sitze.

Carswell: Stimmt, doch das Establishment ist aufgeschreckt. Kaum war meine Nachwahl vorbei, begann Premier Cameron über Einwanderung, Steuererleichterungen, einen schlanken Staat und echten Freihandel zu sprechen. Und das lediglich wegen einer Nachwahl! Jetzt stellen Sie sich vor, wie er wohl reagieren wird, sollte Ukip bei der Wahl im Mai 2015 massiv ins Unterhaus einziehen!

Anders als andere „Parteiwechsler“ haben Sie Ihr Mandat niedergelegt, um sich der Nachwahl in Ihrem Wahlkreis zu stellen. Das hätte doch auch ins Auge gehen können?

Carswell: Na klar! Ich war keineswegs sicher, daß ich meinen Sitz nicht mit Pauken und Trompeten verlieren und als politische Witzfigur der Nation enden würde.

Warum haben Sie das dann riskiert?

Carswell: Weil ich meine politische Überzeugung nicht länger mit meiner Mitgliedschaft bei den konservativen Tories vereinbaren konnte. Und weil der richtige Weg meist nicht der einfache ist. Ich habe mich freiwillig der Nachwahl gestellt – was es seit Jahrzehnten in Großbritannien nicht mehr gegeben hat –, weil ich meinen Wechsel zur Ukip den Bürgern zur Beurteilung vorlegen und nicht über die Wähler hinweggehen wollte. Das wurde honoriert. So habe ich den ersten Unterhaussitz für Ukip tatsächlich gewonnen und nicht etwa durch einen billigen Übertritt nur „abgestaubt“. Das macht die Herren Etablierten in London ja auch so nervös.

David Cameron hat Ukip einmal eine „Bande von Spinnern, Bekloppten und heimlichen Rassisten“ genannt.

Carswell: Camerons schlechte Manieren – Menschen mit anderer Meinung zu beschimpfen – sind sein Problem.

Waren Sie nicht befreundet?

Carswell: Ich habe lange für David gearbeitet und kenne ihn auch persönlich ziemlich gut. Ich habe mit ihm an seinem Küchentisch gesessen und seine selbstgemachte Lasagne gegessen. Er ist ein netter Mensch. David wollte die Konservativen einmal modernisieren. Aber als er dann Premier wurde, hat er alle seine früheren Versprechen vergessen.

In einem Interview mit der „Weltwoche“ äußern Sie, er sei weder als Premier noch als Parteiführer geeignet, sprachen ihm gar ab, eine „ernsthafte Person“ zu sein.

Carswell: Ich mag David als Menschen, aber ich halte ihn in der Tat als Führungsperson für ungeeignet, und ich lehne seine Politik ab. Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun.

Glaubt Cameron an seine Ideale und ist nur nicht in der Lage, sie umzusetzen, oder ist er ein Karrierist?

Carswell: Ich bin mir über seine Ideale nicht mehr im klaren – das ist Teil des Problems, das ich mit ihm habe.

Betrachtet Cameron Sie als Verräter?

Carswell: Ich glaube nicht ... ich weiß es nicht. Das ist auch nicht wichtig. Hier geht es nicht um unsere Beziehung, sondern um unser Land. Ich bin damals nicht ins Unterhaus gegangen, um Feunde zu finden, sondern um den politischen Wechsel für Großbritannien voranzutreiben. Um aber ehrlich zu sein: Ich glaube, daß David Cameron gar keine konsistente eigene Position hat, daß es ihm nicht darum geht, Inhalte zu verwirklichen, sondern darum, Premierminister zu sein.

Und wie haben Ihre Parteifreunde reagiert?

Carswell: Ich habe bei den Konservativen enorme klammheimliche Zustimmung erfahren. Motto: Ich würde das nicht machen. Aber gut, daß es einer tut.

In Deutschland werden die Tories meist als konservative Partei von echtem Schrot und Korn betrachtet. Das stimmt nicht?

Carswell: Ich dachte das auch! Aber nein, die Tories haben den Kompaß verloren. Eine konservative Partei „von echtem Schrot und Korn“ – das galt früher, das gilt nicht für die Tories von heute.

Die Konservativen sind moralisch kollabiert?

Carswell: Ihre Frage trifft den Punkt. Ich glaube, es ist wie bei der Bankenkrise. Vor dieser haben wir alle doch geglaubt, daß unsere Banker tolle Banker sind, die die Sache im Griff haben. Warum? Nun, weil sie diesen riesigen Bankhäusern vorstehen, diese dicken Boni bekommen und in diesen gewaltigen Bürotürmen residieren. Dann mußten wir lernen, sie waren keineswegs gute Banker, ganz im Gegenteil! Das gleiche gilt für die etablierten Parteien. Hinter deren großen, alten, beeindruckenden Fassaden sitzen Leute, die es nicht können. Tatsächlich verfallen die Parteien innerlich, werden von einer Clique von Berufspolitikern ruiniert, die sich einbilden, alte Hasen und Profis zu sein und nicht merken, welche Verwahrlosung sich unter ihrer „Führung“ vollzieht.

Was ist die Ursache?

Carswell: Ich glaube, der Fehler liegt in unserem politischen System: Es belohnt Menschen, die niemals im wahren Leben bestanden, sondern sich von Anfang an nur im Apparat hochgedient haben. Ob Premier Cameron, Schatzkanzler George Osborne oder Labour-Chef Ed Milliband – sie alle haben den vormals mächtigen Männern, aber nicht dem Volk gedient. Sie haben nicht die Ochsentour vor dem Souverän bestanden, sondern sind über den Machtapparat gleich Fallschirmspringern von oben in ihre Amtssessel gelangt.

Die Tories sind unter Druck, Ukip dagegen ein aufsteigender Stern. Sind Sie nicht vielleicht einfach ein politischer Opportunist?

Carswell: Ganz sicher nicht. Ich sehe in Ukip eben ein politisches Vehikel für jene Modernisierung, für die ich seit Jahren kämpfe und die die Konservativen den Wählern einst versprochen haben. Ich glaube an Großbritannien. Für mich ist es das großartigste Land der Welt! Und alle Probleme und Schwierigkeiten, die unser Land hat, etwa die unkontrollierte Einwanderung, die Staatsverschuldung, die Wirtschaftskrise, die Energiekrise – all das könnten wir lösen oder zumindest die Lage verbessern, wenn wir politische Reformen hätten. Doch die Konservativen unter Cameron wollen nicht reformieren. Sie hängen am Status quo. Ja, sie blockieren eine Reform. Deshalb mußte ich mich von ihnen trennen.

Was genau meinen Sie mit Modernisierung?

Carswell: Zunächste einmal meine ich das mit Bezug auf unsere Demokratie selbst. Sehen Sie, in der Nachwahl haben mich auch etliche Bürger gewählt, die politisch nicht meiner Meinung sind. Warum? Weil ich sie gefragt habe. Sie honorieren, daß ich mich freiwillig dem Prinzip „Das Volk ist der Boß“ unterworfen habe. Viele Briten sind heute voller Ressentiment gegen die Politik, und zwar weil das Establishment sie nicht beachtet. Diese Wut mobilisiert viel negative Energie. Ich glaube, daß sie sich in positive Energie umwandeln läßt, wenn man den Bürgern zeigt, daß Politik heißt, sie zu beteiligen, sie zu fragen. Dann kann aus Mißtrauen Vertrauen werden. Und es kann wieder etwas bewegt werden in unserem Land. Ich glaube, das ist der Wandel, für den Ukip steht: die Bürger für die Politik zurückzugewinnen!

Klingt gut, aber die Vertrauenskrise zu lösen, heißt noch nicht, brauchbare Rezepte für die Sachfragen zu haben. Müssen Sie da nicht ein bißchen mehr bieten?

Carswell: Einerseits haben Sie recht, andererseits scheint mir, daß Sie die Bedeutung dessen, was ich gerade beschrieben habe, unterschätzen. Wenn es uns Briten gelingt, unsere politische Mentalität zu reformieren, läßt sich mehr lösen, als Sie ahnen. Nehmen Sie etwa die tiefe Krise, die Großbritannien in seinem Verhältnis zur EU hat: Ich meine, wir Briten sollten aufhören, den Deutschen, den Franzosen oder Brüssel die Schuld dafür zu geben.

Wie bitte? Ist das nicht geradezu das Markenzeichen von Ukip?

Carswell: Nein. Ich meine, wir sollten anerkennen, daß unser Problem die Vereinbarungen und Regelungen sind, die britische Politiker einst in Europa selbst ausgehandelt haben. Wenn heute die Mehrheit der Briten damit unglücklich ist, dann sind daran nicht Angela Merkel oder die EU schuld, sondern wir, die wir das alles einst unterschrieben haben. Und was war die Ursache für diese falschen Weichenstellungen damals? Daß es keine Opposition dazu gab. Es gab nur Parteien, die mehr oder weniger für die EU waren – aber alle waren sie dafür. Die Vorstellung, daß unsere großen Parteien in den großen Fragen Konkurrenten seien, ist eine Fiktion. Gerade da sind sie sich alle einig. Und dieses System hat sich regelrecht zu einem institutionellen Monopol verdichtet: Tatsächlich stützten sich die „Konkurrenten“ Tories und Labour wie zwei angeschlagene Konzerne, die ihren Kundenstamm schützen. Die Kunden sind dabei die Wahlkreise, die so eingerichtet sind, daß nur in fünfzehn bis zwanzig Prozent der Wahlkreise ihre Amtsinhaber wechseln können. Die anderen Kreise dagegen sind todsicher und werden an loyale Gefolgsleute vergeben. Das heißt, der Wähler hat de facto gar keine Wahl, und Parteisoldaten, nicht Volksvertreter, machen das Rennen.

Sie haben dagegen Ukip mit Aldi und Lidl verglichen.

Carswell: Ja, denn erst als Aldi und Lidl bei uns hier in Großbritannien aufgetaucht sind, haben wir gemerkt, wie schlecht unsere eigenen Supermarktketten sind. Die deutschen Aldi und Lidl brachten frischen Wind und zwangen uns, zu reagieren. Ukip ist wie Aldi und Lidl in der Politik: Endlich echte Konkurrenz. Ukip ist nicht, wie Kritiker gern behauten, ein grimmiger Reflex auf das Vergehen des alten Nachkriegs-Großbritanniens. Sozusagen Konservative im Exil. Unsinn! Wir schätzen den Fortschritt und wissen zu schätzen, um wieviel angenehmer das moderne Leben ist. Wenn es einen Bezug zur Vergangenheit gibt, dann den zur alten Liberalen Partei des 19. Jahrhunderts unter Premierminister William Gladstone: außenpolitisch zurückhaltend, innenpolitisch modern, mit Freihandel, schlankem Staat und niedrigen Steuern für die Bürger. Das muß Ukip werden: gladstone.com!

Sieht das Ihr Parteichef auch so?

Carswell: Ich sehe keinen Dissens. Zum Glück, denn Nigel Farage ist enorm wichtig für Ukip. Und zwar weil er es geschafft hat – ebenso übrigens wie mein guter Freund Bernd Lucke von der Alternative für Deutschland –, eine Partei zu schaffen, die anti-establishment, aber nicht extremistisch, ausländerfeindlich oder illiberal ist. Das ist nicht leicht, und es ist toll, daß Farage das gelungen ist.

Ihr „Freund“ Bernd Lucke?

Carswell: Er war bei mir im Unterhaus zum Tee.

Allerdings lehnt die AfD jede Zusammenarbeit mit Ukip ab.

Carswell: Ich weiß, Lucke mußte sich zwischen Tories und Ukip entscheiden, und er will den Euro, nicht aber wie wir die EU verlassen. Wäre ich Deutscher, würde ich das auch so sehen.

Warum tun Sie es als Brite nicht?

Carswell: Großbritannien hat eine andere Rolle als Deutschland. Es ist ein globaler, kein europäischer Spieler. Deutschland ist eine kontinentale Macht, wir nicht. Eigentlich sind wir sogar ein außereuropäisches Land. Nehmen Sie meine Heimatstadt: In meiner Straße haben mehr Bürger eine Verbindung nach Australien als nach Europa. Tatsächlich hörte Großbritannien schon im 17. Jahrhundert auf, ein europäisches Land zu sein, und wandte sich statt dessen der Welt zu. Wir haben einen Fehler gemacht, als wir uns in den siebziger Jahren von unseren Partnern rund um den Globus lösten, um uns an die Europäische Gemeinschaft zu binden. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU hat also nichts mit Isolationismus zu tun, sondern mit einer Rückkehr zu unserer alten Orientierung nach Übersee – damit die Fenster aufzustoßen und der Welt zu sagen: Wir sind wieder zurück.

 

Douglas Carswell, als „schallende Ohrfeige in David Camerons Gesicht“ bezeichnete die führende britische Sonntagszeitung Sunday Times den Wahlerfolg Carswells Mitte Oktober. Der Abgeordnete der konservativen Tories war aus Enttäuschung über die Politik David Camerons zur UK Independence Party (Logo rechts) gewechselt. Carswell, der seit 2005 im Unterhaus sitzt, legte freiwillig sein Mandat nieder, um Neuwahlen in seinem ostenglischen Wahlkreis Clacton zu provozieren und dabei für Ukip anzutreten. Am 9. Oktober gewann er diese und verbesserte sein Ergebnis sogar von 53 auf 60 Prozent. Damit ist der Direktgewählte der erste Ukip-Abgeordnete im Unterhaus. Kurz nach diesem Interview gewann auch der ehemalige Tory Mark Reckless seine Nachwahl für Ukip (siehe Seite 9). Womit die Partei nun über zwei Abgeordnete im House of Commons verfügt. Geboren wurde der ehemalige TV- und Investmentmanager Carswell 1971 in London.

Foto: Carswell unterwegs im Londoner Regierungsbezirk: „Ukip ist kein grimmiger Reflex auf das Vergehen des alten Großbritannien ... sondern ein politisches Vehikel der Modernisierung, die die Konservativen immer versprochen haben.“

 

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