© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Der Flaneur
Kontrastreiche Teilhabe
Sebastian Hennig

Es läuft die Nachmittagsvorstellung im Staatstheater Saarbrücken. In einer Inszenierung von „Tosca“ singen schöne Menschen mit großen Stimmen. Sie singen und spielen wirklich ergreifend. Die blutrünstige Geschichte ist eine Mordsgaudi, die allen gefällt. Die Reihen sind bis auf den letzten Platz besetzt. Die Menschen wurden aus dem Umland mit dem Autobus gebracht. Die Kunst gehört dem Volke.

Hier im Grenzlandtheater erscheinen sogar zwei Völker als Eigentümer. Damit sie sich wirklich die Kunst aneignen können, werden die Texte hoch oben über der Bühne in Deutsch und Französisch angezeigt. Auf der Bühne singen russische Sänger auf italienisch.

Am Abend Milieuwechsel. In der „Garage“ spielt eine Doom-Metal-Band aus Chicago.

Eine Szene läßt den Blick durch den Bühnenhinterraum in seiner gesamten Tiefe dringen. Durch die schmalhohen Fenster am Ende werden im winterlichen Nachmittagslicht die kahlen Bäume draußen am Ufer der Saar sichtbar. Das feine Abendpublikum bekommt das nicht zu sehen.

Eine Einlasserin an der Saaltür drückt mir ein Faltblatt in die Hand. Es handelt sich um die Einladung der Senioreninitiative zum Theatertreff nach dem Vorstellungsende.

Doch am Abend wird das Milieu gewechselt. In der „Garage“ spielt eine Doom-Metal-Band aus Chicago. Die Lokalität entspricht dem Namen. Es ist ein dunkler Schuppen. Bald läßt ein höllischer Lärm die Hosenbeine um die Waden flattern. Der elektrische Beat schlägt mit hundert Brettern vor den Brustkorb. Vorsichtshalber stelle ich mich etwas weiter hinten in den Lärmschatten. Vorn mit den wilden Bärten sind mutmaßlich verschmuste Vegetarier am Werk. Neben der Gitarre und dem Keyboard wird auch ein Saxophon geblasen. Sie sehen aus wie Krieger. Doch sie wollen nur spielen. Gestern in Florenz und morgen in München. Heute krawallt es in Saarbrücken. Nur wenige Frauen sind im kleinen Klub. Doch mit seinen strähnigen dunklen Haaren um das langrunde Gesicht sieht der kreischende Sänger selbst aus wie eine junge Frau, die nach langer Migräne die ersten Schritte vor die Haustür gewagt hat.

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