© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Als die Vernunft ihre Zügel verlor
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs drohte die Schweiz an ihren kulturellen Gegensätzen zu zerbrechen
Paul Leonhard

Eine rhetorische Frage, die der spätere Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler am 14. Dezember 1914 stellt, kennzeichnet den Höhepunkt eines Streits, an dem die mehrsprachige Schweiz in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs zu zerbrechen droht: „Sollen wir vielleicht einen Krieg herbeiwünschen, um uns unserer Zusammengehörigkeit deutlicher bewußt zu werden?“ Welsche und Deutschschweizer werfen sich gegenseitig „Germanisierung“ und „französische Unterwanderung“ vor. Um die Unabhängigkeit des Landes zu bewahren, liebäugelt die Militärführung mit einem Kriegseintritt auf der Seite der Mittelmächte.

„Wir haben es dazu kommen lassen, daß anläßlich des Krieges zwischen dem Deutsch sprechenden und dem Französisch sprechenden Landesteil ein Stimmungsgegensatz entstanden ist“, so Spitteler vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Der Schriftsteller listet die Elemente der politischen Schwächen auf: „Wir haben nicht dasselbe Blut, nicht dieselbe Sprache, wir haben auch kein die Gegensätze vermittelndes Fürstenhaus, nicht einmal eine eigentliche Hauptstadt.“ Und so beschwört er in seinem Vortrag, der unter dem Titel „Unser Schweizer Standpunkt“ rasch große Beachtung findet, das gemeinsame Symbol, das die Elemente der Schwäche überwinde: das Schweizerkreuz. Einen leidenschaftlichen Mahnruf zum Schweizertum als der wirklichen Neutralität schreibt auch Konrad Falke, der eine intensivere Förderung der drei Landessprachen durch die Schulen fordert.

Während die Bewohner des Fricktals den Lärm der Geschütze aus dem nahen Frankreich hören, die Brücken am Rhein verbarrikadiert und die Pässe gesichert sind, Zehntausende ihren Dienst bei Miliz und Armee leisten (insgesamt werden 200.000 Männer im August 1914 mobilisiert) und die Bundesversammlung die „vollständige“ Neutralität des Landes bekräftigt, ist ein Krieg ausgebrochen, den die Schweizer „nicht mit Waffen, sondern mit der Feder, mit Schreibmaschinen und Druckerschwärze“ führen, wie Christopher Büchi unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung erinnerte. Zeitungen werden verwarnt, zwei sogar verboten.

Das Problem der Schweiz ist, daß sobald ein europäischer Konflikt das jeweilige Sprachgebiet zur Stellungnahme herausforderte, die multikulturellen Strukturen des Landes, das drei große europäische Kulturen in seinen Grenzen vereinigt, in gefährlicher Weise auf die Probe stellt, konstatiert der Historiker Max Miller in seinem Buch „Der Weg zum Ersten Weltkrieg: Wie neutral war die Schweiz?“ (Zürich, 2003). Die Neutralität des Landes sei während der „Grenzbesetzung 1914 bis 1918“ von innen und außen bedroht worden.

Mißtrauen der Welsch-und Deutschschweizer

Die Deutschschweizer sympathisieren 1914 mehrheitlich mit dem Kaiserreich, dem sie einen schnellen militärischen Sieg zutrauen. In der Westschweiz setzen die Einwohner auf Frankreich. Das gegenseitige Mißtrauen ist groß. Der deutsche Einmarsch in das neutrale Belgien wird von den Welschen scharf kritisiert, von den Deutschschweizern vehement verteidigt. Für letztere sei das Distanzgewinnen besonders schwierig, da die lange Friedenszeit „gänzlich vergessen ließ, daß zwischen Deutschland und der deutschen Schweiz etwas wie eine Grenze steht“, beschreibt Spitteler die Situation. Der Schriftsteller läßt keinen Zweifel daran, daß „die Plötzlichkeit des Kriegsausbruchs gleich einer Bombe“ in das Gemütsleben der Eidgenossen eingeschlagen habe: „Die Vernunft verlor ihre Zügel, Sympathie und Antipathie gingen durch und liefen mit einem davon. Und der nachkeuchende Verstand mit seiner schwachen Stimme vermochte das Gefährt nicht aufzuhalten.“

Besonders schwierig erweist es sich für die Regierung, die richtige Distanz zu den Nachbarländern zu halten. Die Schweiz ist einerseits auf Rohstoff- und Lebensmittellieferungen aus den sich bekämpfenden Nachbarländern angewiesen und benötigt andererseits Abnehmer für die eigenen Industrieprodukte. Mit der Unterzeichnung des Haager Abkommens hat sich das Land verpflichtet, alle an einem Krieg beteiligten Staaten gleich zu behandeln und den wirtschaftlichen Verkehr mit den Kriegführenden aufrechtzuerhalten.

Anfangs wird vor allem ein französischer Umfassungsangriff durch den Jura – tatsächlich entsteht im Dezember 1915 der „Plan H“ (Helvétie) – in Richtung deutscher Südgrenze befürchtet. Deswegen wurden bereits 1906 die Ingenieuroffiziere beauftragt, wirkungsvolle Verteidigungsanlagen zu bauen. 1914 geben die Sperren im Rhonetal und die moderne Gotthardfestung den Schweizern das Gefühl der Sicherheit. Trotzdem gibt es bei Kriegsausbruch Überlegungen, die eigene Armee notfalls zur Verteidigung der Heimat der deutschen Obersten Heeresleitung zu unterstellen.

Die Regierung versucht, sich durch geheime Beistandsabkommen mit Deutschland auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite abzusichern und setzt auf den Flankenschutz, den eine neutrale, aber militärisch gerüstete Schweiz ihren Nachbarn bietet. „Die Gefahr einer kriegerischen Verwicklung schlich beständig drohend den Grenzen entlang“, schreibt der Schriftsteller Meinrad Inglin in seinem Roman „Schweizerspiegel“. Letztlich schafft es die Schweiz durch eine geschmeidige Konzessionsbereitschaft gegenüber den Kriegführenden ihre Neutralität vier Jahre lang zu verteidigen. Ob der Krieg, der starke nationale und soziale Spannungen auslöst, „letztlich den Zusammenhalt der Eidgenossenschaft stärkte“, wie der Zürcher Historiker Jakob Tanner sagt, darf bezweifelt werden.

Notstandsgesetze, Hungersnöte, die Angst vor Überfremdung, Staatsaffären, ein drohender kommunistischer Aufstand und letztlich die gewaltsame Niederschlagung des Landesstreiks im November 1918 hinterlassen eine tief verunsicherte, gespaltete Gesellschaft, die erst die erneute Bedrohung im folgenden Weltkrieg wieder eint. Letztlich ist jeder sechste Schweizer bei Kriegsende völlig verarmt. Die ab 1918 grassierende Spanische Grippe kostet 25.000 Eidgenossen das Leben, für das Land die größte demographische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Foto: Schweizer Soldat, Postkarte 1914: Sympathien für die Mittelmächte

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