© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

DVD: Der Tag bricht an
Von Trieben gelenkt
Werner Olles

Der Fabrikarbeiter François (Jean Gabin) hat in einer Affekthandlung einen Totschlag begangen. In einem Pariser Miethaus verbarrikadiert er sich in seiner Dachwohnung und weigert sich, vor Gericht zu erscheinen, weil er seine Tat als einen Akt der Gerechtigkeit ansieht. Das Haus wird daraufhin von Polizei und Gendarmerie belagert, aber er verteidigt sich mit dem Mut der Verzweiflung. In erdrückender Einsamkeit durchlebt er nachts noch einmal die Geschehnisse, die ihn zu der kopflosen Tat gebracht haben. Er hatte sich in die Floristin Françoise (Jacqueline Laurent) verliebt, die eine Affäre mit dem Dompteur Valentin (Jules Berry) hat. Françoise jedoch verspricht, sich von Valentin zu trennen. Es kommt schließlich zu einer Aussprache zwischen den beiden Männern, während der François seinen Nebenbuhler erschießt. Am Morgen setzen die Polizisten zum Sturm auf seine Wohnung an ...

Mit „Der Tag bricht an“ (Le jour se lève, 1939) schuf Marcel Carné ein Meisterwerk des poetischen Realismus. Dem Regisseur glückte hier die Gestaltung großer Poesie aus dem Skeptizismus, aus der Hoffnungslosigkeit, aus tragischer Verzweiflung und Lebensverneinung. Mit Rückblenden schildert der Film das Drama eines Menschen mit psychologischer Gründlichkeit und einer Stimmungsmalerei, bei der, äußerlich gesehen, nicht viel geschieht. Seine negative Tendenz zeigt sich indes besonders deutlich in Gabins Rollengestaltung, die in den Schluß-szenen zu einem Zusammenbruch in vulkanischem Gabin-Stil führt.

Ähnlich wie Renoir veranschaulichte auch Carné durch die dokumentarische und dennoch poetische Ausdruckskraft seiner Bilder das seelische Geschehen und die innere Wandlung von Menschen, die von ihren Trieben gelenkt und von den Grenzen ihres Milieus gefangen werden. So verweist „Der Tag bricht an“ mit eindringlichem Ernst auf den Verlust von Glauben und Orientierung in der Welt und vereinigt doch unerschrocken und erschreckend zugleich die Gegensätze zu einer einzigartigen Synthese: Immer sind die Menschen etwas anderes als das, wofür sie sich ausgeben oder wofür man sie hält, und doch sind sie voll dunkler Ahnungen für die unausweichliche Katastrophe, der sie nicht entrinnen können.

DVD: Der Tag bricht an. Studiocanal/Arthaus 2014, Laufzeit etwa 82 Minuten

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