© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

„Verdrängt, bagatellisiert, relativiert“
Kindersex-Vorwürfe: Vor ihrem Bundesparteitag in Hamburg holt die Grünen ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit ein
Christian Schreiber

Als Simone Peter in der vergangenen Woche vor die Hauptstadtpresse trat, galt das Interesse nicht der Grünen-Chefin, sondern dem Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter. Der Göttinger Professor gilt als ausgewiesener Kritiker der Ökopartei, und so durfte Peters gemeinsamer Auftritt durchaus als ein Akt der Selbstgeißelung verstanden werden. Hochschullehrer Walter und sein Team haben sich mit den Pädophilie-Vorwürfen der Grünen während ihrer Gründerzeit auseinandergesetzt, die Parteispitze selbst hatte die Forscher beauftragt. Während des Bundestagswahlkampfs im vergangenen Jahr wurde die Partei von Aussagen aus den achtziger Jahren eingeholt. Prominente Funktionäre wie der ehemalige Grünen-Chef Jürgen Trittin oder der frühere Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit hatten damals Schriften verantwortet, in denen für eine Straffreiheit von Pädophilie geworben wurde.

Absurde Forderungen in Wahlprogrammen

Mit den Veröffentlichungen erhält die Geschichte der Grünen einen erheblichen Makel, galt die Partei doch trotz der Turbulenzen in ihrer Anfangszeit als Erfolgsmodell der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. „Tatsächlich aber gibt es, da sind die Grünen eine stinknormale Partei, eben auch problematische Stellen, die sich weder abhaken noch verdrängen lassen“, sagte Walter.

Verantwortlich für die Verbreitung der pädophilen Propaganda seien im wesentlichen zwei Gruppierungen gewesen: die Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Transsexuelle und Päderasten, die sich ab 1984 für eine generelle Abschaffung des Sexualstrafrechts ausgesprochen habe, dabei aber auf erbitterten Widerstand von Frauenrechtlern gestoßen sei, sowie die sogenannte Indianer-Kommune, die sich als „Kinderrechtler“ verstanden. Die Göttinger Forscher um Franz Walter betonten allerdings, daß die Gruppierungen zwar in der Gründerzeit nicht ganz ohne Einfluß, aber doch weit davon entfernt gewesen seien, eine Mehrheitsposition zu erlangen. Die Grünen seien ein Konstrukt vieler Flügel und Gruppierungen gewesen, daher seien zum Teil abstruse Forderungen in Wahlprogramme aufgenommen worden. Als Teil einer Minderheitsposition plädierte das Grundsatzprogramm der Partei 1980 für eine Legalisierung von pädosexuellen Kontakten, sofern diese „ohne Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses entstanden“ seien.

Heute schämten sich viele für diese Entgleisungen der Gründerzeit. „Wir haben bei unseren Gesprächen und Recherchen festgestellt, wie fassungslos jüngere Grünen-Sympathisanten auf die Sexualdebatte reagieren. Sie verstehen einfach nicht, wie man seinerzeit auf so einen Unsinn kommen konnte, daß Kinder und ältere Erwachsene „einvernehmlichen Sex“ haben könnten.

Walter erklärte, Debatten über Pädophilie habe es schon vor Gründung der Grünen gegeben. Er schreibt sie vor allem linksliberalen Kreisen zu, „die sich als Ort der Emanzipation und der Befreiung verstanden, die dann zu Lasten der Kinder ging. Das ist eine Achillesferse des Linksliberalismus.“ Den Grünen warf er vor, diesen Teil ihrer Geschichte nicht mit dem nötigen Ernst aufgearbeitet zu haben. „Erst wurde verdrängt, dann bagatellisiert, schließlich relativiert, zuletzt ein Schweigesyndikat gebildet.“

Die Parteivorsitzende, die die Ausführungen des Politikwissenschaftlers mit müden Augen verfolgte, bat die Öffentlichkeit um Entschuldigung. Die damals gefaßten Beschlüsse seien „nicht akzeptabel“ gewesen, die Grünen „bedauern zutiefst“, daß es dazu habe kommen können. „Wir hätten viel früher Konsequenzen ziehen müssen, wir haben nicht mit der nötigen Konsequenz reagiert und viel zu spät Verantwortung übernommen“, sagte sie. Man könne nur „bedauern, daß so viele Jahre verstrichen sind“. Wie aktuell das Thema für die Grünen ist, zeigte sich am Montag. Das Landgericht Gießen verurteilte einen ehemaligen Mitarbeiter des grünen Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten. Der 62 Jahre alte Mann soll mehrfach Nachbarskinder sexuell mißbraucht haben. Er war unter anderem stellvertretendes Mitglied des hessischen Grünen-Parteirats und kommunalpolitisch aktiv.

Phase der Selbstfindung

Kurz vor dem Bundesparteitag am Wochenende in Hamburg hofft die Partei dennoch, daß mit Walters Bericht dieses Thema als Teil der Vergangenheit abgehakt ist. Denn auch die Zukunft sieht für die Partei nicht rosig aus. Zwar geht es nicht mehr so turbulent zur Sache wie noch in den Gründerjahren, doch auch heute gibt es Streit zwischen verschiedenen Flügeln. Das Frühjahr 2011, als die Grünen mit Winfried Kretschmann den Posten des Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg eroberten und in bundesweiten Umfragen auf über 20 Prozent hochschnellten, scheinen Ewigkeiten zurückzuliegen. Im vergangenen Jahr landeten sie bei der Bundestagswahl mit 8,4 Prozent auf dem harten Boden der Tatsachen. Die Regierungsbeteiligung wurde verfehlt, seitdem befindet sich die Partei in einer Phase der Selbstfindung.

Die neue Führungsspitze um die Parteilinke Peter und den Realo Cem Özdemir bleibt ebenso blaß wie die Fraktionsspitze mit Katrin Göring-Eckardt und Toni Hofreiter. „Wir haben das Problem, daß uns viele Menschen als Verbotspartei wahrnehmen. Wir müssen wieder einen Gestaltungsanspruch hinbekommen“, sagt Göring-Eckardt. Im Protest gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP glauben die Grünen einen neuen Wahlkampfschlager gefunden zu haben: „Wir werden uns in dieser Debatte an die Spitze der Gegner stellen“, kündigte die Parteivorsitzende Peter an.

Foto: Politikwissenschaftler Franz Walter, Grünen-Chefin Simone Peter: „Wir hätten viel früher Konsequenzen ziehen müssen“

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