© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Der Flaneur
Zu Fuß durch die Stadt
Paul Leonhard

Der Bahnhof erinnert an bessere Zeiten. An die Industrialisierung, an das Jahrhundert der Dampfmaschine. An diesem Abend eilen Männer durch die gekachelte Halle. Sie halten Bierflaschen in der Hand, tragen Rucksäcke oder ziehen Trolleys hinter sich her. Hinter ihnen schlagen die Türen zu. Ich zücke den Fotoapparat, mache Aufnahmen von der leeren Halle mit ihren Figuren. Dann stehe ich auf dem Vorplatz.

In das einzige Taxi steigt ein älteres Ehepaar. Der Fahrer schaut mich fragend an: Ob er einen Kollegen anfunken solle? Ich winke ab. Der Nieselregen hat aufgehört. Ich werde die Stadt zu Fuß erobern. Die Lage meines Hotels hatte ich mir schon zu Hause eingeprägt. Ich muß mich vor dem Bahnhof links halten und aufpassen, daß ich die Gleise weder über- noch unterquere. Die nächste breite Straße nach rechts, die übernächste nach links.

Auf der Karte sah alles einfacher aus als beim Praxistest. Ich habe die Orientierung verloren.

Ich lasse mich vom milden Licht der Bahnhofstraße verführen, folge ihr ein Stück ins Zentrum. Aber dort will ich nicht hin und daher biege ich ab, laufe an einem Hotel mit zugemauerten Fenstern vorbei, an zwei, drei verschlossenen Gaststätten. Nur das Spielkasino signalisiert, daß es mich gern erleichtern möchte. Es folgen prächtig geschmückte Jugendstilhäuser mit leeren Fensterhöhlen und zurückgesetzte Villen, einige angestrahlt und aufwendig saniert. Ich studiere die Schilder der hier ansässigen Institutionen.

Auf der Karte sah alles einfacher aus als jetzt beim Praxistest. Ich habe die Orientierung verloren und finde sie so schnell nicht wieder, weil es keine Straßenschilder gibt. Auch Menschen begegne ich kaum. Ein paar wechseln vor mir die Straßenseite, einer Gruppe angetrunkener Jugendlicher weiche ich aus.

Zu meinem Glück gibt es ein touristisches Wegweisersystem für Autofahrer. Dem folge ich, mein Hotel ist ausgeschildert. Ob ich selbst angereist sei oder mit dem Taxi gekommen, fragt die Dame an der Rezeption. Zu Fuß vom Bahnhof, sage ich stolz. Die Rezeptionistin schaut mich verblüfft an: Das seien doch drei Kilometer ... „Ja, aber dafür kenne ich jetzt Ihre Stadt.“

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