© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Helmut, du bist auch unser Kanzler!“
Der andere 9. November 1989: Wie der Oberschlesier Richard Urban Zeitgeschichte mitschrieb
Paul Leonhard

Ja, wo liegt denn das, dieses Himmelwitz?“ Fragend schaut Helmut Kohl sein Gegenüber am Konferenztisch an. Hinter dem Papierschild mit dem Ortsnamen sitzt der 55jährige Richard Urban, Eigentümer des Landgasthauses „Eka – An der Ecke“ und einer der aktivsten Vertreter der deutschen Minderheit in Oberschlesien.

Es ist der Abend des 9. November 1989. Bundeskanzler Helmut Kohl ist zu seinem ersten Staatsbesuch in Polen eingetroffen. Noch ahnt er nicht, was derzeit im geteilten Berlin geschieht. Er hat mit Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki gesprochen. Jetzt sieht das Protokoll ein kurzes Treffen mit Vertretern der deutschen Minderheit in Polen vor, die es offiziell gemäß Staatsräson überhaupt nicht geben kann.

Für die Oberschlesier war diese von der bundesdeutschen Botschaft organisierte Begegnung wichtig. Richard Urban aus Himmelwitz (Jemielnica) bei Groß Strehlitz in Oberschlesien, den seine Mutter noch als Kind immer getröstet hatte, daß „Schlesien bald wieder zu Deutschland gehören wird“, hatte sich bereits 1988 aktiv an der Gründung der illegalen deutschen Freundschaftskreise beteiligt und war bei der Gründungsversammlung in Straduna (Stradunia) an der Seite von Johann Kroll zum Vorstand gewählt worden. Deswegen wurde er auch in die zwölfköpfige Delegation gewählt, die sich am Abend des 9. November 1989 in Warschau mit Bundeskanzler Helmut Kohl treffen sollte.

„Ich war der vierte in einer Reihe von zwölf Leuten und hatte gar nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden, zumindest nicht als erster“, erinnert sich Urban. Aber dann habe der Kanzler ihm eine Frage nach der anderen gestellt: Wie viele Deutsche in Himmelwitz leben würden? Und wie viele Kilometer das Dorf von St. Annaberg entfernt sei und ob er Bischof Alfons Nossol persönlich kenne? Fragen, auf die Richard Urban, der sich damals noch Ryszard nennen mußte, sein Leben lang gewartet hatte.

Natürlich, er sei eines von den Tausenden Schäfchen, die der Oppelner Bischof betreue, antwortet Urban. 60 bis 70 Prozent Deutsche seien sie im Ort, fügt er stolz hinzu. Er selbst organisiere die Treffen, bei denen die Deutschen noch all die schönen Volkslieder singen. Urban spricht plötzlich schnell, fast beschwörend. Nur 25 Kilometer seien es von Himmelwitz bis St. Annaberg, jener Deutschen wie Polen heiligen Anhöhe. Wenn der Herr Bundeskanzler diesen für seine Landsleute so wichtigen Ort besuchen würde, wäre das ein bedeutendes Signal.

Das weiß auch Kohl. Deutsche Freikorps hatten hier 1921 die polnischen Aufständischen besiegt, die diesen Teil des Deutschland zugesprochenen Oberschlesien für Polen annektieren wollten. Nach Lesart der kommunistischen Zeitung Trybuna Ludu wäre ein Besuch Kohls auf dem Annaberg ein Skandal, denn, so sekundierte der Hamburger Spiegel, hier habe die Reaktion „polnische Widerständler blutig niedergeschlagen“. Das sehen auch die Nationalisten in Polen so, ebenso wie die liberalen und linken bundesdeutschen Medien. Aus ihrer Sicht wäre ein Besuch des St. Annabergs durch den bundesdeutschen Regierungschef ein Affront. Und der Kanzler ist nicht nur Politiker, sondern auch Historiker genug, um die Fallstricke zu erkennen.

Auf Wunsch der polnischen Regierung verzichtet Kohl auf einen Besuch des Annabergs und favorisiert dafür Auschwitz und das ehemalige Gut des NS-Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke. Nein, vom Annaberg will Kohl nichts mehr wissen, auch von Richard Urban nicht. Er wendet sich ab und den anderen Oberschlesiern zu. Er erkundigt sich nach der Umweltverschmutzung in Gleiwitz und dem Empfang deutscher Fernsehsender in Ratibor. Dann entschuldigt sich der Kanzler. „Kinder, ich würde gern noch mit euch reden, wir haben noch viel zu besprechen, aber in Berlin ändert sich gerade die politische Großwetterlage. Die Mauer ist gefallen, ich muß zurück.“

Was noch keiner der Anwesenden ahnt: Die deutsche Wiedervereinigung rückt näher und die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze. Nur ein Jahr später, am 8. November 1990, unterschreiben Kohl und Mazowiecki den Grenzvertrag, und das Haus der deutschen Freundschaftskreise in Oberschlesien senkt die deutsche Fahne auf Halbmast. Es wird auch kein Nachfolgetreffen Kohls mit den Vertretern der deutschen Minderheit aus Oberschlesien geben. Aber den Staatsbesuch setzt Kohl schon zwei Tage später fort. Und am 12. November 1989 wird die Versöhnungsmesse in Kreisau zelebriert. Zahlreiche Fotos halten das Ereignis fest. Sie zeigen den massigen deutschen Kanzler, der den schmächtigen polnischen Premier umarmt. Für viele scheinbar ein Symbol eines ungleichen Kräfteverhältnisses.

Für das I-Tüpfelchen des Triumphes der Oberschlesier sorgt aber Richard Urban. „Wir hatten etwa 50 Busse organisiert, in denen jeweils 50 Landsleute mitfuhren, waren also mit rund 2.500 deutschen Oberschlesiern im niederschlesischen Kreisau vertreten“, erzählt er. Hätte das Treffen auf dem Annaberg stattgefunden, hätte man sicher 300 Busse voll bekommen. Auch so seien die Polen völlig überrascht gewesen. „Die waren Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden, glaubten selbst, daß es in ihrem Land keine Deutschen mehr gebe und rechneten vielleicht mit 30, 40 Leuten“, sagt Urban.

Die 2.500 Oberschlesier stellen sich entlang des Weges auf, den die Staatsmänner gehen sollten. Und Urban hat sich zwei Überraschungen ausgedacht. So gibt eine Bekannte ein Signal, als der Bundeskanzler auf ihrer Höhe ist, und die Deutschen skandieren lautstark „Helmut, Helmut!“ Für Mazowiecki müsse das ein Schock gewesen sein, grinst Urban noch heute vergnügt. Für ihn, den Oberschlesier, dem die polnischen Machthaber seine Muttersprache verboten hatten, muß diese Demütigung des polnischen Ministerpräsidenten in seinem eigenen Staat, aber in ihrer oberschlesischen Heimat, eine tiefe Genugtuung gewesen sein.

Und natürlich halten die Oberschlesier Schilder hoch, auf denen Groß Strehlitz, Ratibor und andere Städte Helmut Kohl grüßen. Aber sie sind nichts gegen die zweite Überraschung, die sich der Gastwirt aus Himmelwitz ausgedacht hat. Mit einem extra großen Stoffballen war er zum polnischen Lehrer gegangen, der für seine schöne Kalligraphie bekannt war. „Panie Zbyszku, können Sie mir helfen?“ hatte er diesen gefragt. Und Zbigniew habe genickt. Aber Urban müsse ihm genau aufschreiben, was er da malen solle, denn er könne ja kein Deutsch. Und das tat Richard Urban, und Zbyszek bemalte den Stoff.

In Kreisau entrollen Richard Urbans Söhne dann einen Spruch, der in die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen eingehen wird und von bundesdeutschen wie polnischen Medien viel weiter gedeutet wurde, als er eigentlich gemeint war: „Helmut, Du bist auch unser Kanzler.“

Die Fotografen knipsen wie verrückt. Kohl ignoriert den Gruß, ebenso Mazowiecki. Die Medien sind trotzdem empört. Über die Bekundungen der vergessenen deutschen Minderheit im allgemeinen und über diese Frechheit im besonderen, die bis heute aber Richard Urban nicht zugeordnet werden konnte. Dabei endet das Ganze harmlos. Der Bischof bittet die Oberschlesier, ihre Plakate einzurollen, damit die feierliche Messe beginnen könne, und diese folgen als gute Katholiken der Bitte.

Es war nicht so, wie es später Bundespräsident Horst Köhler beim Abendessen zu Ehren Helmut Kohls am 8. November 2009 in Berlin beschreibt, daß die Luft zwischen „deutschstämmigen Schlesiern“ und „polnischen Schlesiern“ vor Spannung geknistert hätte. Dazu waren einfach zuwenig Polen da. Aber Mazowiecki habe sie später einmal auf diesen Tag in Kreisau angesprochen, sagt Urban. „Schön war das nicht von eurer Seite“, habe der Ministerpräsident gesagt, als ihm während eines Besuches von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Warschau die Vertreter der deutschen Minderheit vorgestellt wurden: Schließlich gehöre Kreisau zu Polen, und die deutschen Oberschlesier hätten ihn auch willkommen heißen können.

Mit den böswilligen Reaktionen der polnischen und bundesdeutschen Medien auf sein Transparent hatte der Gastwirt gerechnet. „Natürlich hatten damals von uns noch einige die Hoffnung, daß wir wieder zu Deutschland gehören würden, aber zu denen gehörte ich nicht“, sagt Urban. „Das war doch alles viel zu lange her.“ Er habe auf seine Landsleute eingeredet: „Die Leute, die hierher gekommen sind, die haben hier Kinder geboren und sind jetzt hier zu Hause. Soll es eine neue Vertreibung geben? Ihr wißt doch, was das bedeutet. Wir wurden zwar nicht vertrieben, weil wir katholisch waren, aber ausgesiedelt aus unseren Häusern.“

Nein, Richard Urban ist sich an jenem 12. November 1989 gewiß, daß kein deutscher Politiker mehr etwas wegen der Grenzen unternehmen wird, auch Kohl nicht. Er mußte dafür nur auf die Landkarte schauen. Und tatsächlich ignoriert der Bundeskanzler bei seinem Polen-Besuch dieses Thema völlig. Er verzichtet nicht auf die Gebiete, aber er akzeptiert stillschweigend den Status quo.

Für Urban und seine Freunde von den deutschen Freundschaftskreisen ist etwas anderes wichtiger: die bisher unterbliebene Anerkennung der Oberschlesier als Deutsche. Und auch das ist Thema am 9. November 1989, als er und die anderen elf Delegierten in Warschau mit dem Kanzler zusammensitzen: „Wir möchten gern zur polnischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit, um jederzeit in die Bundesrepublik reisen zu können.“ Nach dieser Forderung sei Kohl so blaß geworden, wie Mazowiecki drei Tage später bei den „Helmut, Helmut“-Rufen in Kreisau, und habe leise gefragt: „Um Gottes willen, ihr bleibt doch hier in der Heimat? Was wollt ihr dafür?“ Und die zwölf Oberschlesier antworten: „Wir möchten offiziell Deutsche sein und deutsche Pässe haben, daß wir für uns und für unsere Kinder sagen können, ja, ich bin ein Deutscher.“

Helmut Kohl hat Wort gehalten. „Wir haben die deutschen Pässe bekommen“, sagt Urban, heute 80 Jahre alt und noch immer in Oberschlesien lebend. Viele seien zufrieden gewesen, weil sie nach Deutschland fahren konnten, um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Aber es war ein Geschenk mit Nebenwirkungen. 80 Prozent der jungen Oberschlesier gingen, auch um dem Wehrdienst zu entgehen, für immer nach Deutschland. Auch Richard Urban hat das zu spüren bekommen. Wenigstens zwei seiner vier Söhne sind in der Heimat geblieben, einer hat sogar den Gasthof „An der Ecke“ in Himmelwitz übernommen.

Zwei Schätze aus dieser Zeit bewahrt Richard Urban in seinem Haus noch immer auf: das historische Transparent mit dem Spruch „Helmut, Du bis auch unser Kanzler“, und ein Foto, das die zwölf Oberschlesier mit dem Kanzler zeigt.

Fotos: Bundeskanzler Helmut Kohl (links) während seines Besuchs im niederschlesischen Kreisau am 15. November 1989; Richard Urban mit dem Transparent von 1989: Nach der Forderung ist Kohl blaß geworden Literaturgeschichte

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