© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Es war unbeschreiblich“
Der 9. November 1989 änderte alles – auch für einen Kommandeur im Bundesgrenzschutz
Christian Vollradt

Als er am späten Abend die Wohnungstür aufschließt, kommt ihm sein Sohn aufgeregt entgegen: „Papa, ihr habt Alarm! In Helmstedt ist die Grenze offen ...“ Bernd Kahnert kann es zuerst nicht fassen. Was war passiert? Der Polizeidirektor im Bundesgrenzschutz, seit 1984 Kommandeur der Abteilung Nord 4 in Braunschweig, zieht die Uniform an und läßt sich sofort zu seinem Dienstsitz fahren. Er war zuvor gerade bei einem Vortrag zum Thema „Museen in der DDR“. Ausgerechnet dieses Thema. Ausgerechnet an diesem 9. November 1989. Deswegen hatte er keine Nachrichten gesehen, nichts mitbekommen von jener denkwürdigen Pressekonferenz des Politbüromitglieds Günter Schabowski.

Am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn stauten sich schon die Trabis, es herrschte ausgelassene Stimmung. Die Besucher aus der DDR wurden von ihren Landsleuten aus dem Westen euphorisch begrüßt. Manche Leute hätten sich Stempel des Bundesgrenzschutzes auf Zehn-Mark-Scheine drücken lassen – „Sonst glaubt mir das zu Hause keiner, daß ich im Westen war“, so die Begründung. „Es war unbeschreiblich“, so Kahnert heute rückblickend. „Ab und zu mußten unsere Beamten dort am Übergang auf ihrem Posten abgelöst werden, nur um einfach mal frische Luft schnappen zu können; wegen der vielen Zweitakter herrschte da ein furchtbarer Gestank, die wurden ganz blaß um die Nase“, meint er amüsiert.

Hatte er etwas geahnt? „Also, daß die drüben so schnell die Mauer und die Grenze öffnen, nicht. An die Wiedervereinigung geglaubt hatte ich schon. Das hatte ich auch meinen Beamten immer gesagt: daß diese Teilung in zwei deutsche Staaten unnatürlich ist, daß das so nicht ewig bleiben kann.“ Und natürlich waren die Entwicklungen in der DDR auch am BGS nicht spurlos vorbeigegangen. So wurden in Braunschweig zum Beispiel Übersiedler in einer Grenzschutzkaserne untergebracht. In Helmstedt war Anfang Oktober ein Zug mit den Botschaftsflüchtlingen aus Warschau eingetroffen. Als dieser Zug in den Bahnhof rollte, waren alle Fenster heruntergelassen, erinnert sich Kahnert. Die Flüchtlinge – „alles junge Leute“ – lehnten sich heraus und riefen immer wieder nur ein Wort: „Deutschland!“ – „Das war ein Gänsehautmoment!“

In seiner gesamten Karriere habe es ihn immer an die innerdeutsche Grenze gezogen, sagt Kahnert, der nach dem Abitur Anfang der sechziger Jahre als Offizieranwärter zum BGS geht. Verschiedene Aufgaben nimmt er dort wahr; etwa in der deutsch-deutschen Grenzkommission, die den Verlauf der Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR feststellen sollte. Er war zuständig für die Befragung geflüchteter Angehöriger der „bewaffneten Organe“ und mußte dabei auch schon einmal zwei getürmte DDR-Grenzer aus dem Wohnzimmer eines BGS-Beamten abholen, die dort bewirtet, aber noch gar nicht entwaffnet worden waren. Als Kommandeur in Braunschweig ist Kahnert dann zuständig für die Grenze entlang der Landkreise Helmstedt und Wolfenbüttel. „Ich habe immer Wert darauf gelegt, daß wir möglichst oft Patrouille fahren, um zu beobachten, was drüben vor sich geht. Nur durch die Sammlung möglichst vieler, selbst kleinster Details, entsteht ein brauchbares Lagebild.“ Auf diese Weise stellte der BGS zum Beispiel fest, daß durch verdeckte Schleusen in den Sperranlagen der DDR Leute im Auftrag der Staatssicherheit die Grenze passieren konnten.

Gab es denn schon vor dem November 1989 Kontakte zu den Grenzern drüben? „Eigentlich nicht. Oder jedenfalls äußerst selten“, so Kahnert rückblickend. „Ab und zu bekamen wir mit, wenn sogenannte Entlassungskandidaten drüben waren, deren Wehrdienst bei den Grenztruppen zu Ende ging. Dann zeigte uns der eine lachend sein Maßband, während der andere aufpaßte, daß keine anderen Grenzer die Szene beobachten konnten.“

Nach dem 9. November muß Kahnert die Beobachtung der Grenze weiter intensivieren, wenn auch aus ganz anderen Gründen als zuvor. Überall schwirren Gerüchte über neue Grenzöffnungen. Zuständig für solche Öffnungen, so Kahnert, seien die örtlichen SED-Funktionäre gewesen. Und in den Dörfern steigt der Druck. In einem Ort etwa habe eine Demonstration direkt am Zaun stattgefunden, die Bewohner hätten den Parteisekretär regelrecht körperlich bedrängt.

Für Polizeidirektor Kahnert gibt es auf der Westseite ein anderes Problem. Am Sonnabend, den 11. November, haben bei Mattierzoll Westdeutsche DDR-Gebiet betreten und sind bis an den Sperrzaun gegangen. „Ich hatte die Befürchtung, daß dies eine zügige Öffnung der Grenze dort eher verhindert, deswegen forderte ich die Leute dort auf, solche leichtsinnigen Sachen zu unterlassen.“ Über Funk erfährt Kahnert, daß bei Bad Harzburg die Grenze gerade geöffnet wurde. Sofort läßt er sich mit einem Hubschrauber dorthin fliegen. Schier unglaubliche Szenen spielen sich da ab. Von Westen und von Osten strömen Menschenmassen heran, es gibt bald kein Vor und kein Zurück. BGS-Leute stehen am östlichen Ufer des Grenzflüßchens Ecker – bereits auf DDR-Gebiet, um den Menschen dort nach Westen hinüberzuhelfen, während die DDR-Grenzer eher verschüchtert hinter dem Zaun standen.

Am folgenden Tag informiert der BGS-Posten bei Mattierzoll Kahnert, daß sich dort etwas tue. Der Kommandeur eilt mit Blaulicht und Martinshorn herbei. Doch weit und breit ist kein DDR-Grenzer zu sehen. „Ich ließ mir ein Megaphon geben und bat um einen Ansprechpartner mit Weisungsbefugnis.“ Dann kommt ein Major. „Die Unterhaltung gestaltete sich etwas schwierig, weil wir uns erst an seine sozialistisch-technokratische Sprache gewöhnen mußten“, erinnert sich Kahnert. Der zuständige Kommandeur des Grenzkreiskommandos Halberstadt, ein Oberstleutnant, bleibt im Hintergrund auf dem Beobachtungsturm. Warum, verrät er ihm später selbst. „Die hatten da alle noch Angst, die Sache könnte wieder rückgängig gemacht werden; und sie hätten dann zur Verantwortung gezogen werden können.“

Mit den DDR-Offizieren werden dann nach einigem Hin und Her die wichtigsten Fragen geklärt: etwa, ob Bundesbürger, die ins Nachbardorf in der DDR wollen, ein Tagesvisum für zehn Mark brauchen. Der Euphorie und Wiedersehensfreude der Bewohner in Ost und West tut das keinen Abruch. Und in kürzester Zeit asphaltiert ganz unbürokratisch das westdeutsche Straßenbauamt den Weg auf DDR-Gebiet. Bald wird auch das Verhältnis zu den DDR-Grenzern entspannter, man kooperiert gut, und die Offiziere Ost und West laden sich gegenseitig zum Essen ein. Signalzäune, Wachtürme, Sperranlagen – all das verschwindet binnen kurzer Zeit.

Foto: BGS-Beamte (in der Bildmitte Bernd Kahnert) 1989 mit Offizieren der DDR-Grenztruppe

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen