© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Das hat mich regelrecht umgehauen“
Interview: Falk Elstermann hielt für das oppositionelle „Neue Forum“ die erste politische Rede auf einer DDR-Montagsdemonstration
Moritz Schwarz

Herr Elstermann, Sie haben als erster Vertreter des Neuen Forums – der wichtigsten Oppositionsgruppe im Herbst 1989 – auf einer Montagsdemonstration eine Rede gehalten. Wie kam das?

Elstermann: Ich hatte mich gewundert, wie wir jeden Montag durch Leipzig zogen – und tatsächlich auch immer wieder ungehindert am Ausgangspunkt ankamen. Aber niemand sprach zu den Demonstranten, und ich fürchtete, die Bewegung könnte ohne jemanden, der ihr Richtung und Ziel gibt, bald versanden.

Aber war es nicht gefährlich, eine politische Rede zu halten?

Elstermann: Natürlich, und wir rechneten fest damit, daß wer sich in solcher Weise exponiert, verhaftet werden würde!

Also warum ausgerechnet Sie?

Elstermann: Gute Frage, denn ich war nicht mal Mitglied des Neuen Forums. Ich kannte aber die Leute dort, und ich fragte Petra Lux, die schon vor 1989 SED-kritische Hauskreise veranstaltet hatte und inzwischen Sprecherin des Forums war, wie es denn nun weitergehen solle. Ich appellierte an sie, das Neue Forum müsse sich öffentlich zeigen! Es müsse den Menschen, die auf die Straße gehen, Führung geben! Und schon war ich zur nächsten Sitzung des Forums eingeladen.

Die, wie Sie später beschrieben haben, geradezu surreal verlief.

Elstermann: Absolut, denn es durfte dabei kein Wort gesprochen werden.

Wieso das?

Elstermann: Na, weil klar war, daß wir entweder verwanzt oder im Fokus der Stasi-Richtmikrofone waren. Also wurde alles mit kleinen Zetteln diskutiert. Können Sie sich das vorstellen? Zehn Leute debattieren komplexe Fragen per Notizzettel, weil ihnen der Staat so sehr im Nacken sitzt. Gerade habe ich den neuen Dokumentarfilm „Citizenfour“ über Edward Snowden gesehen. Da gibt es eine ähnliche Szene. Gespenstisch. Gänsehaut pur! Jedenfalls dauerte es Stunden, aber am Ende fiel die Entscheidung: Bei der nächsten Demo am 30. Oktober sollte es eine Rede geben!

Im Neuen Forum versammelten sich vor allem Künstler und Intellektuelle – gab es nicht geradezu eine Drängelei, die erste Rede zu halten?

Elstermann: Nein, am Ende lief es darauf hinaus, daß ich mich bereit erklärte. Immerhin war ich als Schauspieler sozusagen fachlich geeignet.

Hatten Sie Angst?

Elstermann: Mir war schon mulmig. Zwar war die große Angstdemo vom 9. Oktober vorbei, aber sicher konnte man sich keineswegs sein.

Die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 gilt heute als die entscheidende Machtprobe mit dem Regime – die die Demonstranten gewannen.

Elstermann: Noch bei der Demo am 2. Oktober hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen und Inhaftierungen gegeben, und so war die Angst vor der Demo am 9. Oktober groß, es könne wie in China zu einer brutalen Niederschlagung kommen. Dann aber griff die Staatsmacht doch nicht durch, und damit entstand so etwas wie das erste echte Loch in deren Autorität. Heute wissen wir, es hat sich bis zum 9. November immer mehr erweitert. Damals aber war keineswegs klar, ob es sich nicht wieder zuziehen würde. Ich sagte ja, ich rechnete mit meiner Verhaftung nach der Rede. Wir hatten übrigens auch einen Personenschutz organisiert – aus heutiger Sicht natürlich eine naive Maßnahme: Drei, vier Leute standen um mich herum, während ich durch ein Megaphon sprach, und sollten eventuelle Angriffe der Staatsmacht abwehren. Natürlich hätte das die Polizei keine Sekunde aufgehalten. Aber die Stimmung damals war so aufgewühlt, daß mir trotz der Angst nie ein Zweifel kam, daß das gemacht werden muß. Man spürte einfach, dies ist ein historischer Moment und es muß gehandelt werden!

Sie haben später geschildert, wie während der Rede alle Angst von Ihnen abfiel.

Elstermann: Wenn heute die Ereignisse vom Herbst ’89 gefeiert werden, dann wird oft Beethovens Neunte gespielt: „Freude schöner Götterfunken“. Genau das war mein Gefühl während der Rede! Es gab nichts anderes mehr, ich fühlte pure Freiheit! Und auch danach, nur Glück, daß wir es geschafft hatten – keine Angst mehr. Dann kamen die Menschen, gratulierten und dankten uns, es war großartig!

War Ihnen klar, daß nun der Tag des Mauerfalls quasi vor der Tür stand?

Elstermann: Überhaupt nicht. Wir gingen vielmehr davon aus, daß wir, wie in Polen, über Monate oder Jahre unsere demokratischen Rechte Stück für Stück würden erkämpfen müssen. Daß plötzlich die Grenze geöffnet wird und die SED quasi aufgibt, damit habe ich nicht gerechnet. Das hat mich regelrecht umgehauen!

Das heißt, der 9. November war für Sie zwiespältig: einerseits, Tag des Mauerfalls, andererseits das Ende für den sogenannten „Dritten Weg“, also eine eigenständige demokratische Entwicklung der DDR?

Elstermann: Ja, allerdings würde ich das nicht auf den 9. November beschränken. Ich habe erlebt, wie sich auf den Montagsdemos die Stimmung änderte: Erst ging es um Meinungsfreiheit, dann um Reisefreiheit, dann um Wiedervereinigung und dann um die D-Mark. Unsere Hoffnung auf einen Dritten Weg wurde nicht von der Maueröffnung durchkreuzt, sondern von der Tatsache, daß das Volk diesen nicht wollte. Es gab vielleicht ein kleines historisches Fenster dafür, das sich aber schnell wieder schloß.

Sie sind enttäuscht?

Elstermann: Damals war ich es, weil ich glaubte, daß wir alle gemeinsam mehr Mut und Kreativität hätten entwickeln können. Schließlich war klar, daß eine Wiedervereinigung notgedrungen auf eine Art Annexion hinauslaufen würde: Wir würden das westdeutsche System übernehmen und uns nicht weiter mit dem, was die Bürgerrechtsbewegung in der DDR erreicht hatte, auseinandersetzen. Aber auch wenn ich das bis heute schade finde, sage ich: Das ist eben Demokratie, daß die Leute frei abstimmen können. Daß sie diese Freiheit dann anders nutzten, als wir uns das wünschten, das muß man akzeptieren. Für diese Freiheit hatten wir gekämpft.

Also, welches Verhältnis haben Sie jetzt zum Tag des Mauerfalls?

Elstermann: Sie werden es nicht glauben, aber ich habe ihn verpaßt! Ich ging am 10. November morgens völlig ahnungslos zur Arbeit und spürte nur, irgendwas ist heute anders in Leipzig ... In der Ritterstraße sah ich vor der Polizeimeldestelle eine lange Schlange. Was ist los? „Wir holen uns den Stempel, wir wollen ’rüber! Der Schabowski hat die Mauer aufgemacht.“ Ich konnte es nicht fassen! Ich dachte, die verklapsen mich. Erst als mir ein Polizist die Sache bestätigte, wurde mir klar, daß es wirklich passiert ist! Heute bin ich trotz allem sehr froh, daß es den 9. November gegeben hat. Denn wie gesagt, der Staat hätte nach dem 9. Oktober den Sack auch wieder zumachen, hätte völlig irrational um sich schlagen können. Die Gefahr war real.

Also ist Ihr Verhältnis zum 9. November nur deshalb positiv, weil er die Abdankung der SED bedeutet, nicht weil er den Weg zur deutschen Einheit eröffnet hat?

Elstermann: Nein, so ist es nicht. Obwohl ich die verpaßte Chance bedauere, akzeptiere ich, wie es gekommen ist. Es war eine unglaubliche Zeit, und ich freue mich, daß wir es geschafft haben – einschließlich Wiedervereinigung. Natürlich gibt es heute viel, was ich kritisch sehe, aber das wäre auch beim „Dritten Weg“ so, denn auch das wäre kein Idealstaat geworden – das ist doch illusorisch.

Sie haben damals gefordert, das Neue Forum aufzulösen. Warum?

Elstermann: Ich glaube, weil ich ein Romantiker bin. Das Neue Forum hatte für mich die Funktion, sich gegen den Mißbrauch der Macht zu erheben, wie eine höhere Kraft, die uns alle gemeinsam beseelt. Diese Aufgabe war erfüllt. Ich meinte, nun solle man dieses Zauberwort – „Neues Forum“ – ruhen lassen, wie eine „heilige“ Institution des Volkes. Ich sah darin eine Art Instanz, die, wenn der Mißbrauch der Macht ein bestimmtes Maß erneut übersteigt, uns gemeinsam wieder dagegen aufstehen lassen würde. Ich glaube, ich habe dabei an Kaiser Barbarossa gedacht, der im Kyffhäuser sitzt und wiederkehrt, um aus großer Not zu retten. Ich habe Sie gewarnt, ich bin ein Romantiker!

Wie hat man beim Neuen Forum darauf reagiert?

Elstermann: Ich glaube, keiner hat verstanden, was ich gemeint habe. Da bin ich aufgestanden und gegangen.

Das Neue Forum wurde zu einer Partei, die mit den Grünen fusionierte.

Elstermann: Das war, was ich befürchtet hatte: daß es zu einer Institution wie jede andere werden und sich im politischen Alltagsgeschäft verlieren würde. Für mich ist das wichtigste Ergebnis des Herbstes ’89 die Bewußtwerdung der Fähigkeit zur Selbstermächtigung. Eine nicht physisch existente, möglicherweise mythologisch überhöhte Instanz ist doch viel wertvoller als eine Partei, die schließlich nur tut, was alle Parteien tun.

25 Jahre nach dem Fall der Mauer könnte in Thüringen die erste Regierung unter Führung der Linken entstehen. Für Sie ein Problem?

Elstermann: Wenn die Bürger eine Partei wählen, von der manche glauben, daß ihre Politik falsch oder gar gefährlich für unsere Grundordnung sei, dann muß diese ihr Angebot überprüfen und die Bürger zurückgewinnen. Die parlamentarische Demokratie ist ein Wettbewerb, den man nicht dadurch umgehen kann, daß man den politischen Gegner diffamiert oder gar verbietet.

Oha! Gilt das auch für die NPD?

Elstermann: Wenn zur Gewalt oder zur Abschaffung der Verfassung aufgefordert wird, wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Religion diskriminiert werden, bin ich für das Verbot der Organisationen, die dahinterstehen. Solange das nicht der Fall ist, sollte man sich politisch auseinandersetzen. Daher hat es aus meiner Sicht auch keinen Sinn, wenn zum Beispiel die Vertreter der anderen Parteien das Fernsehstudio verlassen, weil dort NPD-Sprecher nach einer erfolgreichen Landtagswahl mit ihren unsäglichen Parolen auftreten. Für mich ist dieses Ausgrenzen ein Ausweichen, eine politische Bankrotterklärung. Man muß sich mit diesen Menschen auch direkt auseinandersetzen, wenn man ihre Politik bekämpfen will. Mit allem anderen bestätigt man nur die Vorurteile der Wähler dieser Partei.

Der Leipziger Bürgerrechtler Bernd Heinze bedauert heute, daß die SED nicht verboten wurde.

Elstermann: Für alles gibt es ein historisches Fenster. Damals wäre ich unbedingt für ein SED-Verbot gewesen. Heute die Linke wegen der SED nachträglich zu verbieten, wäre absurd. Sie ist eine existierende politische Kraft in unserem Land, und die Wähler entscheiden, welche Rolle sie in der Parteienlandschaft spielt.

 

Geboren 1961 in Pirna, gehörte Falk Elstermann zunächst der DDR-Nationalmannschaft der Bogenschützen an. 1989 hielt der Elektromaschinenbauer und Amateurschauspieler die erste Rede auf einer Montagsdemonstration. Heute ist er Geschäftsführer des traditionsreichen Kulturhauses „naTo“ in Leipzig.

Fotos: Falk Elstermann (M.) hält seine historische Rede am 30. Oktober 1989 in Leipzig: „Die Angst fiel von mir ab, es gab nichts anderes mehr, ich spürte die pure Freiheit!“; Transparente für die deutsche Einheit: „Es war eine unglaubliche Zeit und ich freue mich heute, daß wir es geschafft haben – einschließlich der Wiedervereinigung“

 

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