© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Köpfe des Herbstes 1989
Bürgerrechtler der ersten Stunde, die heute teils vergessen sind
Christian Dorn

Der messianische Moment in der Geschichte der DDR des Jahres 1989 liegt in den wenigen Tagen und Wochen vor dem Mauerfall. Es sind die Stunden, in denen erstmals Menschen das Wagnis auf sich nahmen und gemeinsam ihre Mündigkeit einklagten. Zu den Oppositionellen der ersten Stunde, die teils lange vor dem Herbst 1989 für ihre Überzeugung eintraten und kompromißlos Freiheit einforderten, zählten Bürgerrechtler wie Reinhard Schult, Wolfgang Templin oder Ralf Hirsch sowie die hier vorgestellten Namen.

 

Rolf Henrich

Am Anfang war das Wort. Dieser Leitsatz des Johannes-Evangeliums galt auch für den gleichwohl atheistischen Auftakt des so agonalen wie finalen DDR-Jahres 1989. Denn die vom Rechtsanwalt und SED-Mitglied Rolf Henrich im April 1989 im Rowohlt-Verlag erschienene Schrift „Der vormundschaftliche Staat: Vom Versagen des real existierenden Sozialismus“ überraschte die DDR-Machthaber vollkommen. War dieser Essay doch eine mit intellektueller Schärfe vorgetragene Anklage aus den eigenen Reihen, die gerade deshalb die sozialistische Nomenklatura desavouierte. Dabei war Henrich kein klassischer Bürgerrechtler. Fast ein Jahrzehnt war Henrich, geboren 1944 in Magdeburg, SED-Parteisekretär des Rechtsanwaltskollegiums Frankfurt (Oder) gewesen.

Aus politischen Gründen scheuten die Machthaber vor einer Inhaftierung Henrichs zurück. Sie beschränkten sich auf den Parteiausschluß und entzogen ihm, der eine der größten DDR-Kanzleien unterhielt, die Zulassung als Rechtsanwalt. Zu einer Symbolfigur des Herbstes 1989 wurde er schließlich als Mitinitiator der Bürgerbewegung „Neues Forum“, wo er – neben Jens Reich – zu den wenigen Köpfen mit bürgerlichem Habitus zählte.

 

Jens Reich

Der 1939 in Göttingen geborene Professor Jens Reich, Arzt und Molekularbiologe, arbeitete seit dem schicksalhaften Jahr 1968 an der Akademie der Wissenschaften. Seit Mitte der achtziger Jahre brachte er bei oppositionellen Veranstaltungen seine Stimme ein und veröffentlichte – unter Pseudonym – Artikel in Westdeutschland. Für Bärbel Bohley und Katja Havemann war Reich aufgrund seines sozialen Prestiges eine jener Personen, die sie für ihr Vorhaben, eine breite Sammlungsbewegung zu initiieren, dringend benötigten. So steuerte er – ebenso wie Rolf Henrich – einen Textentwurf zum Gründungstreffen des Neuen Forums am 9./10. September in Grünheide bei Berlin bei. Aus beiden Entwürfen entstand der legendäre Aufruf „Aufbruch 89 - Neues Forum“. In der Folge avancierte Jens Reich zu einem der wichtigsten Repräsentanten der Revolution. So sprach er auf der Massenkundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin für das Neue Forum. Später saß er in der ersten frei gewählten Volkskammer. 1994 bewarb er sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.

 

Vera Lengsfeld

Ausgerechnet aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) entstammten einige ihrer herausragendsten und klarsichtigsten Kritiker. Neben Rolf Henrich oder Wolfgang Templin gilt dies für Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Sondershausen. Auch ihr oppositioneller Werdegang war nicht vorgezeichnet, wuchs sie doch in einem systemkonformen Elternhaus auf. Neben dem Vater, der zeitweise beim MfS arbeitete, war später auch ihr zweiter Ehemann Knud Wollenberger als „IM Donald“ für den DDR-Sicherheitsdienst tätig, was sie erst 1991 aus den Akten erfuhr. Lengsfeld studierte marxistisch-leninistische Philosophie, trat 1975 der SED bei und arbeitete an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Wie etliche Parteigänger aus echter Überzeugung zweifelte sie bald an der SED-Politik, in der Theorie und Wirklichkeit offenkundig auseinanderklafften. Wegen ihrer offensiven Kritik und ihrem Anschluß an oppositionelle Kreise wurde gegen sie ein Parteiverfahren wegen „Abweichlertums“ eingeleitet. Als sie 1983 öffentlich gegen die Stationierung sowjetischer Atomraketen in der DDR protestierte, wurde sie aus der SED ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Danach schlug sie sich als Imkerin und Übersetzerin durch, bis sie an einer kirchlichen Hochschule das Theologiestudium aufnahm. 1987 war sie Mitbegründerin der Initiative „Kirche von Unten“, die sich gegen die politische Anpassung der ostdeutschen Amtskirche richtete. Als sie 1988 mit einem selbstgemalten Plakat an der liturgischen Staatsdemonstration für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht teilnehmen wollte, wurde sie verhaftet. Aufgrund öffentlicher Proteste, auch aus dem Ausland, zog es die SED vor, ihre Opponentin zu einem kirchlichen „Studienaufenthalt“ nach England abzuschieben. Doch Lengsfeld kam rechtzeitig zurück in die Geschichte: Am Morgen des 9. November durfte sie wieder in die DDR einreisen, wo sie schließlich der neu gegründeten Grünen Partei beitrat und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer wurde.

 

Rainer Eppelmann

Äußerlich immer mehr wie ein Wiedergänger Wladimir Iljitsch Lenins wirkend, war Rainer Eppelmann, geboren 1943 in Berlin, von Anbeginn ein kompromißloser Antikommunist. Als Schüler besuchte er ein Gymnasium im westlichen Teil Berlins. Mit dem Mauerbau mußte er dieses in der 11. Klasse verlassen, die DDR verweigerte ihm das Abitur, da er nicht dem sozialistischen Jugendverband FDJ beitrat. Eppelmanns Traum, Architekt zu werden, war damit aus. 1966 verweigerte er den Wehrdienst und landete daraufhin für acht Monate im Gefängnis, zuerst in Neustrelitz und dann im Militärstraflager Ueckermünde. Nach dem Studium am Berliner Theologieseminar Paulinum wurde er 1975 ordiniert. Als oppositioneller Jugendpfarrer Berlins stieg er in den Achtzigern zum Staatsfeind Nummer eins auf.

Zu seinen Bluesmessen in der Friedrichshainer Samariterkirche – heute die letzte evangelische Kirche im Stadtbezirk Friedrichshain, die noch „in Betrieb“ ist – pilgerten junge Leute von überall her. Durch diesen kirchlichen Raum schuf Eppelmann eine wesentliche Keimzelle für die Freiheits- und Friedensbewegung des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates. 1982 verfaßte er mit Robert Havemann den Berliner Appell, der sich gegen die offene Militarisierung der DDR-Gesellchaft wandte. Diese Kampfansage führte auf Anordnung Honeckers zur Festnahme Eppelmanns. Ihm wurde die Durchführung einer Unterschriftensammlung, die Schaffung einer illegalen Organisation, die Zusammenarbeit mit DDR-feindlichen Kräften im Ausland sowie DDR-feindliche und antisowjetische Hetze vorgeworfen. Die Öffentlichkeit im Westen führte allerdings nach wenigen Tagen zur Entlassung Eppelmanns aus der Stasi-Haft. Um den unnachgiebigen Pfarrer dennoch mundtot zu machen, plante das MfS zwei Mordanschläge. Deren Ausführung unterblieb, da in Polen die Offiziere der Staatssicherheit, die am 19. Oktober 1984 den Priester Jerzy Popiełuszko ermordet hatten, verurteilt wurden. Im Herbst 1989 war Eppelmann zunächst Vertreter der Opposition am Runden Tisch und – Ironie der Geschichte – Verteidigungsminister der letzten DDR-Regierung, oder genauer: der einzige Abrüstungsminister der Geschichte.

 

Christoph Wonneberger

Geschichte ist eigenwillig. Dies gilt auch für ihre Gestalter. Wer an den Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution in Leipzig denkt, hat heute automatisch den jüngst verstorbenen Pfarrer Christian Führer im Sinn. Dabei trat dieser erst ins Licht der Öffentlichkeit, als Christoph Wonneberger verstummt war – am 30. Oktober 1989 erlitt der Wortführer der Leipziger Revolution und Initiator der Friedensgebete einen plötzlichen Hirnschlag, der ihn für Jahre verstummen ließ. Dabei ist die Friedliche Revolution von Herbst 1989 vor allem das Werk dieses Mannes. Geboren 1944 in Wiesa, initiierte Wonneberger als Pfarrer der Dresdner Weinbergskirche den Sozialen Friedensdienst und begründete die Tradition der Friedensgebete. Für seine Unterstützung des Berliner Appells, für den er Unterschriften sammelte, wurde auch er von der Stasi heimgesucht. Nicht zufällig sah Eppelmann im Kollegen Wonneberger den wesentlichen Impulsgeber für seine politischen Aktivitäten. Die Kirchenleitung versetzte ihren Unruhestifter an die Leipziger Lukasgemeinde. Hier war Wonneberger ab 1986 Koordinator der Leipziger Friedensgebete in der Nikolaikirche. Seine mutige, politische Predigt vom 25. September 1989 gilt als der eigentliche Aufruf der Friedlichen Revolution. Auch der 9. Oktober von Leipzig, der „Tag der Entscheidung“, an dem 70.000 Menschen auf die Straße gingen, ist mit seinem friedlichen Verlauf wesentlich das Verdienst Wonnebergers, der am selben Abend noch live ein Telefon-Interview in den ARD-Tagesthemen mit Hans-Joachim Friedrich gab. In seiner illegalen Pfarramtsdruckerei in Volkmarsdorf hatten er und seine Mitstreiter 30.000mal den Anti-Gewalt-Aufruf vervielfältigt, mit dem auch erstmals die Parole „Wir sind ein Volk“ in die Öffentlichkeit gelangte.

 

Werner Schulz

Auch für den damals 18jährigen Werner Schulz ist der Prager Frühling 1968 und dessen militärische Niederschlagung ein Schlüsselerlebnis, das – so der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – „aus einem frühen 68er einen reifen 89er werden ließ“. Der diplomierte Lebensmitteltechnologe, geboren 1950 in Zwickau, war Mitte der siebziger Jahre Bausoldat. Wegen seines Protests gegen die russische Invasion in Afghanistan 1979 verlor er seine Stelle an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schulz arbeitete in kirchlichen Basisgruppen, ab 1981 war er Mitglied des überregional bekannten Pankower Friedenskreises. 1989/90 profilierte er sich rasch als einer der markantesten Vertreter des Neuen Forums am Zentralen Runden Tisch. In der letzten, im Frühjahr 1990 gewählten DDR-Volkskammer stach Werner Schulz schnell als einer der scharfsichtigsten und rhetorisch gewandtesten Redner hervor. Dies zeigte sich auch im Deutschen Bundestag. Seine rhetorische Brillanz sicherte ihm später auch so manches Mandat. Seine fulminante Rede im Jahr 2005, als Kanzler Gerhard Schröder den Bundestag auflöste, hat längst Aufnahme in Rhetorikschulungen und Sammlungen bedeutender zeitgenössischer politischer Reden gefunden.

 

Gerd Poppe

Gerd Poppe, geboren 1941 in Rostock, ist Veteran und Vordenker der DDR-Opposition. Nachdem er in Rostock Physik studiert hatte, gehörte er ab 1965 zum Milieu der Berliner Subkultur, das er entscheidend mitprägte. Er suchte den Kontakt ins östliche Ausland, besonders in die Tschechoslowakei zu den Akteuren der Charta 77. Wegen seines Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 verlor er eine bereits zugesagte Stelle an der Akademie der Wissenschaften. Danach arbeitete er als Maschinist in Berliner Schwimmhallen, ab 1984 als Ingenieur im Diakonischen Werk. Gerd Poppe gehörte zu den atheistischen Aktivisten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Er hielt enge Kontakte zu Grünen-Abgeordneten in der Bundesrepublik, etwa Petra Kelly, und war 1985 Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), der ersten Bürgerbewegung der DDR. Zu deren weiteren Gründungsmitgliedern gehörten unter anderem Wolfgang Templin und Bärbel Bohley sowie Poppes zweite Ehefrau (Ulrike Poppe).

Poppe, der Mitherausgeber und Autor illegaler politischer Publikationen war, veranstaltete in seiner Wohnung, die zeitweise zentraler Treffpunkt der DDR-Opposition war, Lesungen nicht publizierter Schriftsteller. Von Dezember 1989 bis März 1990 vertrat Gerd Poppe die IFM am Zentralen Runden Tisch und engagierte sich besonders für die Erarbeitung einer neuen Verfassung der DDR und später des vereinigten Deutschlands. Im März 1990 wurde er Abgeordneter der Volkskammerfraktion von Bündnis 90 und gehörte zu den Protagonisten der Parteibildung und späteren Fusion von Bündnis 90 mit den Grünen. Von 1990 bis 1998 war Poppe Bundestagsabgeordneter für die Partei Bündnis 90/Die Grünen, danach bis 2003 Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte.

 

Heiko Lietz

Als Sohn eines Pfarrers 1943 in Schwerin geboren, hatte Heiko Lietz – bei sieben Geschwistern – früh gelernt, sich auch rhetorisch zu behaupten. Während des Theologiestudiums in Rostock zählten Christoph Wonneberger, Joachim Gauck und Ulrich Schacht zu seinen Kommilitonen. Die Einberufung zum Wehrdienst hatte Lietz verweigert. Nach Untersuchungshaft und Subversion innerhalb der NVA wurde der Vikar schließlich zu den Bausoldaten gesteckt, wo er Proteste gegen den Einmarsch in die ČSSR 1968 initiierte. Später, in der Jugendarbeit seiner Gemeinde in Güstrow, sammelte er gefährdete Jugendliche um sich – nicht um sie zu bekehren, sondern ihnen ihr Selbstwertgefühl wiederzugeben.

Wegen theologischer Konflikte beendete er 1980 seine Tätigkeit in der Amtskirche. Als 1981 Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Erich Honecker Güstrow besuchte, erhielt Heiko Lietz – vom MfS als OV (Operativ-Vorgang) „Zersetzer“ bearbeitet – Hausarrest. Während er bis 1988 als Hauswirtschaftspfleger arbeitete, wirkte er als Jugendbetreuer, Sozialarbeiter, Seelsorger und Friedensaktivist. Als dieser organisierte er 1984 das DDR-weite jährliche Treffen „Frieden konkret“. Dessen „DDR-weiten Arbeits- und Koordinierungskreis zum Wehrdienstproblem“ organisierte und moderierte er bis 1989 bei den Treffen in der Berliner Samariterkirche. Während Lietz damit in Mecklenburg der Mann der ersten Stunde war, wagte sich ein Joachim Gauck erst mit den ersten großen Demonstrationen in die Öffentlichkeit.

Foto: Bundestagsgruppe von Bündnis 90/Die Grünen: Christina Schenk, Ingrid Köppe und Vera Wollenberger sowie (hintere Reihe v.l.n.r.) Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe und Werner Schulz

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