© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Taktieren im Talar
Die evangelische Kirche in der DDR konnte die Opposition nur fördern, indem sie selbst nicht oppositionell war
Thorsten Hinz

Im Herbst 1989 sah die evangelische Kirche in der DDR kurzzeitig wie die Siegerin der Geschichte aus. Ihre Gotteshäuser waren überfüllt, die Besucher machten – nach der bis heute populären Lesart – mit religiösen Verrichtungen (Gebeten) und Symbolen (Kerzen) dem SED-Regime den Garaus. Christlicher Glaube und politischer Freiheitsdrang, so die Fama, seien eins geworden und hätten die im Atheismus wurzelnde Diktatur niedergerungen. Im Hochgefühl wurde den Ereignissen eine innere Folgerichtigkeit zugeschrieben, denn die Kirche sei stets eine wetterfeste Burg in roter Brandung, ein Hort der Wahrheit und Schutzraum für die politische Opposition gewesen.

Die Erzählung ist zu märchenhaft, um völlig wahr zu sein. In der Wirklichkeit schmolz die Schar der Kirchenbesucher schnell wieder auf den kleinen, harten Kern zurück. Die Bevölkerung, in 40 Jahren Sozialismus der Religion entwöhnt, war im Wendeherbst keineswegs vom Heiligen Geist erfüllt gewesen. Mangels Alternativen und in der politischen Artikulation ungeübt, hatte sie auf die liturgischen Formen und organisatorischen Möglichkeiten zurückgegriffen, die ihr die Kirche bot. Schnell mußten die Menschen erkennen, daß diese nicht ausreichten, um sich unter den neuen Bedingungen zu behaupten.

Auch war die evangelische Kirche kein monolithischer Widerstandsblock, sondern eine pluralistische Institution. Es gab Pfarrer wie den Bürgerrechtler Rainer Eppelmann, der seit 1979 in der Berliner Samariterkirche sogenannte Bluesmessen – Gottesdienste mit Bluesmusik – veranstaltete, die sich als Bestandteil der oppositionellen Jugendkultur etablierten. Der Leipziger „Revolutionspfarrer“ Christian Führer hatte 1982 in der Nikolaikirche mit den wöchentlichen Friedensgebeten begonnen, die 1989 zum Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen wurden. Der Rostocker Joachim Gauck. glaubensfest und staatsfern, vermied es, direkt in die politische Sphäre hineinzuwirken. In Erfurt hatte der langjährige Bischof Moritz Mitzenheim (1891–1977) den sogenannten „Thüringer Weg“ begründet. Dieser konservative Lutheraner, der in der NS-Zeit der Bekennenden Kirche angehört hatte, vertrat die Auffassung, daß die evangelischen Christen auch dem SED-Staat Loyalität schuldeten. Der Bischof der Pommerschen (damals noch Greifswalder) Kirche, Horst Gienke, biederte sich noch im Sommer 1989 bei Erich Honecker mit einer Ergebenheitsadresse an, die im SED-Zentralorgan Neues Deutschland prompt abgedruckt wurde. Ein Sonderfall ist der Berliner Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, der sich in einer schwer einsehbaren Grauzone zwischen Staat und Kirche betätigte und dabei auch die Staatssicherheit kontaktierte.

Um den unterschiedlichen Handlungsweisen gerecht zu werden, muß man den politischen und historischen Rahmen betrachten, in den die Evangelische Kirche gestellt war. Die Landeskirchen der DDR gehörten bis 1969 der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an. Die Unterstützung aus dem Westen sicherte ihnen das materielle Überleben, doch für die DDR-Führung bildeten sie in der Logik des Kalten Krieges lange eine fünfte Kolonne der Bundesrepublik. Der Staat übte lange Zeit einen enormen Druck aus. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel: Von den zehn Kindern des Pfarrers Uwe Holmer, der dem gestürzten Erich Honecker 1990 Unterschlupf gewährte, durfte keines Abitur machen. Es wäre selbstmörderisch gewesen, die Konfrontation zu forcieren. Der Zeitzer Pfarrer Oskar Brüsewitz, der 1974 das vom Staat plakatierte Selbstlob „25 Jahre DDR“ mit dem Plakat „2000 Jahre Jesus Christus“ der Lächerlichkeit preisgab, blieb eine Ausnahme. Sein offener Widerstand endete in einer Tragödie. Vom Staat drangsaliert, von der Gemeinde isoliert und von der Kirchenleitung im Stich gelassen, übergoß er sich am 22. August 1976 mit Benzin und setzte sich in Brand.

Eine Entkrampfung brachte das Treffen der evangelischen Kirchenführung mit Staats- und Parteichef Erich Honecker am 6. März 1978. Die DDR konnte es sich leisten, den Druck auf die Kirche zu mildern. Die Kirchenleitung kam Honecker entgegen und versicherte, sich nicht als Kirche gegen oder neben, sondern „im“ Sozialismus zu verstehen.

Ein Fremdkörper und Pfahl im Fleisch des Arbeiter-und-Bauern-Staates blieb sie gleichwohl. Zwar hatte sie 1969 die Trennung von der EKD vollzogen und sich im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) neu konstituiert, doch in den Statuten betonte sie weiterhin die „besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“.

Ihre Wirkung auf die Gesellschaft sollen einige persönliche Reminiszenzen aus Jahren 1983 bis 1989 illustrieren: Ich erinnere mich lebhaft an meinen ersten Kirchentag im Lutherjahr 1983 in Rostock, geleitet übrigens von Joachim Gauck. Ich war damals Armeeangehöriger beim Kommando Volksmarine, für den Besuch aber in Zivilkleidung geschlüpft. Religiös empfänglich, doch aus einem staatstreuen Elternhaus kommend, überwog das politische Interesse. Das wurde bedient, aber nur am Rande oder in verschlüsselter Form. Die Stadt hatte ihre neue Sport- und Kongreßhalle zur Verfügung gestellt – eine freundliche Geste, die durch das Vermeiden direkter Systemkritik vergolten werden mußte. Das gab den Veranstaltungen – aus heutiger Sicht – einen verhuschten Charakter. Ich fand ihn mustergültig in einem Gedicht ausgedrückt, das bei einer Veranstaltung aushing und das ich in mein (heimlich geführtes) Tagebuch notierte: „Sie sagen, sie lieben die Menschen / und dennoch töten sie sie. (...) Sie sagen, sie lieben die Natur, / und dennoch zertreten sie Blumen. / Herr, ich habe Angst, wenn sie sagen: / Ich liebe Dich!“

Man muß die sentimentalen Verse im damaligen Kontext verstehen: Ich entnahm ihnen den Protest gegen den Schießbefehl, die Umweltzerstörung, gegen die erstickende Umarmung des Staates, die ich in der Armee besonders intensiv erlebte. Viele hatten solche Empfindungen, auf dem Kirchentag wurden sie endlich öffentlich gemacht und dadurch objektives Faktum. Weiter in meinen Notizen: „Viele Menschen, nicht uniformiert, sondern frei, ohne Verpflichtung gekommen, freiwillig eben.

Eine Laienspielgruppe, 15jährige Schüler, mit kritischen Texten. (Sie handelten von der Militarisierung in den Schulen.) Ein schönes Gefühl, endlich mal klatschen zu können, weil man wirklich zustimmt und sich dabei unter Gleichgesinnten befindet. Auf dem großen Parkplatz beim Gewerkschaftshaus an der Warnow der Abschlußgottesdienst mit 20.000 Menschen. Ja, doch, ich war gefangen.“ Auf dem Kirchentag 1983 wurde kein politischer Widerstand zelebriert, doch mit leiser Bestimmtheit der Allmachtsanspruch der Partei zurückgewiesen. Unter den herrschenden Umständen bedeutete das viel!

Beim Kirchentag der Berlin-Brandenburgischen Kirche vom Juni 1987 in Berlin aber knisterte die Luft. Die 750-Jahr-Feier der geteilten Stadt wurde in Ost und West mit großem Aufwand begangen. Wenige Wochen zuvor hatte David Bowie vor dem Reichstag ein Konzert gegeben, das über die Mauer in den Ostteil schallte, wo sich die Verbitterung der Jugendlichen in Tumulten und dem Ruf „Die Mauer muß weg“ Bahn brach. Amerikas Präsident Ronald Reagan forderte in einer spektakulären Rede am Brandenburger Tor den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow auf, die Mauer niederzurreißen. Und Honecker fieberte seiner Reise nach Bonn entgegen, wo er die volle Souveränität der DDR demonstrieren wollte.

In der Marienkirche sprach der Gelehrte Carl-Friedrich von Weizsäcker, der Bruder des damaligen Bundespräsidenten, über den „Konziliaren Prozeß“ der christlichen Kirchen zur Rettung der Schöpfung. Die Akustik war katastrophal, die Aufforderungen, lauter zu reden, irritierten den Gast. Jüngere Besucher fühlten sich von den großen Visionen bald gelangweilt. Sie wollten Konkretes hören und erfahren. Sie fanden es im hochpolitischen Rahmenprogramm oder den Veranstaltungen der „Kirche von Unten“, einem Zusammenschluß politisch Oppositioneller unter dem Dach der Kirche. Sie veranstalteten Lesungen, Ausstellungen und verteilten Flugblätter gegen die staatliche „Praxis der Abgrenzung“. Die Amtskirche taktierte, mußte taktieren. Um die Erlaubnis für den Kirchentag in Berlin zu erhalten, hatte sie der staatlichen Forderung nach dem Ende der Bluesmessen zugestimmt. Dennoch genehmigte sie kurzfristig ein Konzert des Sängers Stefan Krawczyk, der sich einen Ruf als Systemkritiker erarbeitet hatte; ein halbes Jahr später wurde er mit seiner Ehefrau Freya Klier und weiteren Bürgerrechtlern verhaftet und in den Westen abgeschoben. Die Atmosphäre in der Samariterkirche war spannungsgeladen. Mitten im Konzert standen Besucher plötzlich auf und nahmen mit gezückter Kamera die Umsitzenden ins Visier.

Zum Höhepunkt geriet eine Podiumsdiskussion über die Helsinki-Akte und zur Menschenrechtslage. Der Gemeindesaal war überfüllt, so daß ich nur noch auf dem Fußboden unmittelbar vor dem Tisch der Podiumsteilnehmer Platz fand, Auge in Auge mit Günter Gaus, dem ehemaligen Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in der DDR. Mehrmals übergab ich ihm Zettel, die von hinten durchgereicht wurden. „Ich möchte ausreisen, können Sie mir helfen?“ Gaus schrieb zurück: „Ich kann nichts versprechen, werde es aber versuchen.“

Die Fragen konzentrierten sich auf das brennendste Thema: Reisefreiheit! Die Szene wurde zum Tribunal, als Botschafter Ernst Krabatsch vom DDR-Außenministerium sich den Fragen stellte. Krabatsch hatte zahlreiche Verhandlungen im westlichen Ausland geführt und vertrat die DDR bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Er wirkte überhaupt nicht wie ein SED-Funktionär. Sein ganzer Habitus ließ erkennen, daß er gewohnt war, sich auf internationalem Parkett zu bewegen. Hier aber fühlte er sich eindeutig unwohl. Er sah sich in eine angstbefreite Zone mitten in der DDR versetzt. Für einen staatlichen Funktionär war das Neuland.

Die Fragen prasselten auf ihn nieder. Wann kommt die Reisefreiheit für DDR-Bürger? Was ist mit den Ausreiseanträgen? Was mit der besuchsweisen Wiedereinreise der Ausgereisten? Warum dürfen Bürger mit Westverwandtschaft reisen, die anderen aber nicht? Krabatsch sprach stockend über Frieden, Entspannung, Abrüstung, vom großen Ganzen. Es war das tausendmal Gehörte. Zwischenrufer unterbrachen ihn: „Kommen Sie zum Thema!“ Ein regelrechtes Gewitter brach über ihn herein. Er stotterte, sein Gesicht war hochrot, er bot ein Bild des Jammers. Selbst diesem im Grunde sympathischen Mann gelang es nicht mehr, den eigenen Bürgern die Politik der DDR plausibel zu machen.

Ein Eklat lag in der Luft. Um ihn abzuwenden, sprang Günter Gaus Krabatsch zur Seite. An das Publikum gewandt sagte er sinngemäß: „Ich weiß, Sie sind ungeduldig, und Sie haben jedes Recht dazu! Und ich, der aus dem Westen kommt, kann gut reden. Trotzdem muß ich Sie bitten, Geduld zu haben. Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, und auch Herr Krabatsch kann Ihnen nichts anderes sagen. Alles, was Sie vorbringen, weiß er auch. Aber die Lage ist nun mal so.“ Und er schilderte die Kompliziertheit der deutschen Frage, die es nach DDR-Lesart gar nicht gab und über die der Botschafter nicht reden durfte. Tatsächlich legte sich die Erregung, doch der Staat und sein Vertreter, die vom Klassenfeind durch den Nachweis ihrer Unzuständigkeit in Schutz genommen worden waren, standen jetzt noch erbärmlicher da. Das aufgeworfene Problem und die eigene Lage aber erschienen auf den ersten Blick noch schwieriger und hoffnungsloser. Und auf den zweiten?

Die Kirche konnte nur solange Schutzraum für oppositionelle Kräfte sein, wie sie sich nicht selber als politische Opposition zu erkennen gab. Im dialektischen Spannungsfeld zwischen Anpassung und Kritik aber lag ein Freiraum für individuelle Entscheidungen. Ich hatte das Glück, 1986/87 Christian Führer näher kennenzulernen: Der Leipziger „Revolutionspfarrer“ war mein Taufpfarrer. Seine Freundlichkeit, seine Weltzugewandtheit, Tapferkeit und Energie schöpfte er aus dem Gottvertrauen. Das Charisma der reinen Güte ging von ihm aus. Sein Motto für die Nikolaikirche lautete: „Offen für alle“. Auch für Ausreisewillige, für Andersdenkende, für Atheisten, die schikaniert wurden und hier einen Ankerplatz fanden. In der Runde der Erwachsenentäuflinge wurde nur beiläufig von Politik gesprochen, doch manchmal war ihm die Anspannung anzumerken und deutete er an, daß es Kirchenfunktionäre gab, die seine großzügige Auffassung vom Auftrag der Kirche ablehnten.

Es ist aber nicht respektlos, zu fragen, ob er und andere ihren Standpunkt hätte durchhalten können ohne die Bremser und Kompromißsucher, die in brenzligen Situationen beschwichtigten, bei Inhaftierungen diskret vermittelten und zu diesem Zweck die grundsätzliche Loyalität der Kirche zum Staat betonten. Beide Tendenzen bildeten eine dialektischen Einheit, die den politischen Freiraum allmählich vergrößerte.

Pfarrer Führer war realistisch und souverän genug, zuzugeben, daß der Wendeherbst 1989 überwiegend von Atheisten in Gang gesetzt worden war. Die brauchten danach keine Fürsorge der Kirche mehr, die Ereignisse hatten sich von ihr emanzipiert. Bei einem Friedensgebet nach dem 9. November 1989 im Greifswalder Dom verlas die Pfarrerin Briefe von Armeeangehörigen, die von Schikanen und Drangsalierungen bei der NVA berichteten. Mehrmals unterbrach sie die Lesung mit der Aufforderung an die Versammelten, Buße zu tun, ihr Gewissen zu erforschen und eigene Schuld zu bekennen. Im Prinzip war das richtig, denn beinahe jeder hatte unter der SED-Diktatur freiwillig oder unfreiwillig Anpassungsleistungen erbracht und Schuld auf sich geladen. Aber jetzt war der denkbar falscheste Moment für Selbstzerknirschung. Jahrzehntelang war Kritik am real existierenden Sozialismus als Zeichen geistiger, psychischer und moralischer Deformation abgetan oder auf den Einfluß des Klassenfeindes zurückgeführt worden.

Die Kritiker sollten den Fehler nicht in den Verhältnissen, sondern bei sich selber suchen. Aufgestaute Wut darüber entlud sich nun. Die überforderte Pfarrerin setzte die vormundschaftliche Praxis einfach fort. Aktion war jetzt gefragt, politische Wegweisung und Führung. Erregte Rufe hallten immer wieder durch das Kirchenschiff: „Ihr redet und redet. Nun tut doch endlich was!“ Sie blieben unerhört.

Hinterher wurde planlos demonstriert. Die Mauer war offen, die Machtfrage entschieden. Der Schutzraum Kirche samt ihren Gebeten und Kerzen war nicht mehr nötig. Was war jetzt zu fordern, zu tun? Die evangelische Kirche war keine Instanz mehr, die darauf Antwort geben konnte.

Fotos: Transparent auf dem Kirchentag 1989: Pfahl im Fleisch des Arbeiter-und-Bauern-Staates; Transparent auf dem Kirchentag 1989: Pfahl im Fleisch des Arbeiter-und-Bauern-Staates

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