© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

„Laßt uns dir zum Guten dienen“
Erinnerungen an das Gesamtdeutsche Institut und die Deutsche Frage
Detlef Kühn

Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in Ost und West zu stärken, wurde 1969 das Gesamtdeutsche Institut – eine inzwischen weitgehend vergessene Behörde – gegründet. Diese Aufgabe sollte, wie es im Gründungserlaß vom Sommer 1968 des damaligen Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, dem späteren Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hieß, vorrangig „durch Informationsvermittlung“ geschehen. Etwa 250 Mitarbeiter in Bonn und West-Berlin beobachteten und analysierten die Entwicklung in der DDR im Laufe der Jahre und erfüllten auf dieser Grundlage ihre Informationspflichten gegenüber Regierungsstellen und Öffentlichkeit.

Besonders in der politischen Bildungsarbeit war die Wiedervereinigung ein stets aktuelles Thema, auch wenn Ermüdungserscheinungen in Politik und Gesellschaft bei diesem Thema nicht zu übersehen waren. Mitarbeiter der Behörde stemmten sich unter diesen Umständen gegen einen feindlichen Zeitgeist. Sie erfüllten damit den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das 1973 in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR ausdrücklich erklärt hatte: „Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken – das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.“

Wie keine andere Behörde hat sich das Gesamtdeutsche Institut in seiner politischen Arbeit an diesem Verfassungsauftrag orientiert. Natürlich gab es dagegen Widerstand. Er kam am heftigsten aus der DDR. Die SED-Führung hatte in den fünfziger und sechziger Jahren durchaus noch am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten, wie es zum Beispiel im Text ihrer Nationalhymne von Hanns Eisler und Johannes R. Becher zum Ausdruck kam: „Laßt uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.“ Als 1951 der Autor in der 9. Klasse einer Potsdamer Oberschule den neuen Text auswendig lernen mußte und einige Klassenkameraden maulten, das bisherige Deutschlandlied sei besser gewesen, meinte unsere noch aus der „alten Zeit“ stammende Musiklehrerin nur: „Beruhigt euch; es hätte schlimmer kommen können.“ Und es kam schlimmer!

Irgendwann Anfang der siebziger Jahre verschwand der Text der DDR-Hymne stillschweigend aus der Öffentlichkeit. Er wurde in den Schulen nicht mehr gelehrt und auch sonst nicht mehr gesungen. Die SED-Führung hatte erkannt, daß es ein einiges Deutschland unter ihrer Führung wohl nicht geben würde, und verabschiedete sich auch weitgehend von dem politischen Begriff Deutschland. Karl Eduard von Schnitzler frohlockte in dieser Zeit im Rundfunk, „Deutschland“ sei nur noch der Name eines Hotels in Leipzig, das dann bald auch noch umbenannt wurde. Dennoch hatte Schnitzler unrecht. An zwei wichtigen Stellen blieb auch der DDR Deutschland als Begriff erhalten: in der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, und im Namen ihres Zentralorgans Neues Deutschland. Letzteres heißt noch immer so.

Diese Auseinandersetzungen spielten in der politischen Bildung im Gesamtdeutschen Institut keine geringe Rolle. Denn auch im Westen gab es Tendenzen, den Begriff „Deutschland“ als Beschreibung eines aktuellen Zustands möglichst bald verschwinden zu lassen. Häufig wurde er auf den westlichen Teilstaat beschränkt, der sich möglichst bald in einem vereinten Europa auflösen sollte. Besonders peinlich war diese Begriffsverwirrung, wenn im Fußball „Deutschland“ gegen die DDR spielte – und die DDR sogar 1:0 gewann. Auch musikalisch gab es im Westen Probleme. Jahrelang wurde die Nationalhymne, deren dritte Strophe bei offiziellen Anlässen gesungen werden sollte, im Schulunterricht schlicht ignoriert; kaum noch jemand konnte sie singen. Die Folgen waren dieselben wie in der DDR; man hörte sich – auch bei offiziellen Anlässen – die Musik von Haydn zwar stehend, aber schweigend an.

Zusätzlich wurde später noch verbreitet, das „Lied der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben aus dem Jahr 1841, besonders seine erste Strophe, sei sowieso verboten. Das war zwar Unsinn, aber patriotische Gruppen aus Bundeswehr oder Jugendbünden fühlten sich oft erst dann sicher, wenn sie eine entsprechende Bescheinigung des Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts vorlegen konnten, die ihnen selbstverständlich gern erteilt wurde.

Unter diesen Umständen wurde die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 die Bewährungsprobe auch für die nationalpolitischen Bemühungen der Mitarbeiter des Gesamtdeutschen Instituts. Wie würden die Deutschen in Ost und West auf die plötzlich millionenfach gegebenen Möglichkeiten zur Begegnung reagieren? Würden sie „fremdeln“ oder doch dankbar vor allem nationale Gemeinsamkeiten (wieder-)entdecken? Wenn auch die individuellen Erfahrungen höchst unterschiedlich waren – im großen und ganzen fand doch recht schnell zusammen, was zusammengehörte. Dazu trug nicht zuletzt das sogenannte Begrüßungsgeld in Höhe von 100 D-Mark bei, das jeder Besucher aus der DDR erhielt und das den Menschen, die jetzt zum ersten Mal in den Westen kamen, die beschämende Rolle des Bittstellers ersparte.

Auch im Gesamtdeutschen Institut stauten sich die Besucher aus dem Osten. Rechtsrat wurde eingeholt, in der Bibliothek gab es bald keinen freien Platz mehr. Die Materialien zur politischen Bildung waren sehr begehrt, besonders der reich bebilderte DDR-Kalender und das Standardwerk von Karl Wilhelm Fricke (Interview Seite 3) über das Ministerium für Staatssicherheit. Im Februar drängten sich am Stand des Gesamtdeutschen Instituts auf der Interschul-Messe in Dortmund die Lehrer aus dem Osten, die Rat und Hilfe suchten, wie sie mit der völlig veränderten Situation an ihren Schulen umgehen könnten. Dem Autor dieser Zeilen ist ein Gespräch mit Politik- und Geschichtslehrern unvergeßlich, die von ihren Schwierigkeiten mit Schülern erzählten, denen sie vor wenigen Monaten noch die jetzt obsolet gewordene kommunistische Ideologie zu vermitteln hatten. Sie sorgten sich zu Recht um ihre Glaubwürdigkeit als Pädagogen.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts.

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