© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Goldenes Zeitalter der Stagnation
Ein Sammelband über die Sowjetunion von der Breschnew-Zeit bis zur Perestroika bleibt unverbindlich
Jürgen W. Schmidt

Die Herausgeber Boris Belge und Martin Deuerlein zeigen sich in ihrem Vorwort erfreut über die Tätigkeit ihnen unbekannt gebliebener Gutachter der Schriftenreihe, welche die Beiträge auf „Herz und Nieren“ prüften und „entscheidende Verbesserungen“ anregten. Andernorts würde man so etwas eventuell „Zensur“ nennen. Trotz dieser Bemühungen kann sich das Buch vom Inhalt wie von der Qualität her nicht mit dem Sammelband von Martin Malek und Anna Schor-Tschudnowskaja zum Untergang der Sowjetunion (JF 39/13) messen.

Zwar erklären die Herausgeber in der Einleitung, warum gegenwärtig leidgeprüften Russen die zu Perestroika-Zeiten als „Epoche der Stagnation“ verteufelte Breschnew-Ära oft als ein „Goldenes Zeitalter“ erscheint. Immerhin waren hier die grundlegenden Lebensbedürfnisse, wenngleich auf niedrigem Niveau, gesichert. Doch selbst ein Parforceritt von Klaus Gestwa, der in seinem abschließenden Aufsatz „Von der Stagnation zur Perestroika“ Antworten auf manche Fragen gibt, welche man in den meisten der vorhergehenden Aufsätze vergeblich sucht, kann die Lage nicht mehr retten.

Aufsätze über die „Heldenstadt“ Tula, den sowjetischen Schlager in den sechziger Jahren oder über das Verhältnis von offizieller und inoffizieller Kunst erklären keineswegs, warum plötzlich um 1985 für die Supermacht Sowjetunion eine Roßkur namens „Perestroika“ nötig wurde, die einen letalen Ausgang für das einst machtstrotzende Staatsgebilde nach sich zog. Malte Rolf und Moritz Florin weisen in ihren Beiträgen über die Irrwege sowjetischer Nationalitätenpolitik in Litauen und Kasachstan zumindest auf eine wesentliche Ursache für den nachfolgenden Untergang der Sowjetunion hin.

Esther Meier und Stefan Guth deuten in ihren Aufsätzen zu zwei ausgewählten Industriestandorten an, warum die sowjetische Wirtschaft selbst dort nicht florierte, wo man sie kräftig zu fördern suchte. Doch fehlen gänzlich Beiträge über Stagnation und Wandel bei den grundlegenden Machtkomponenten in der Sowjetunion, seien es Partei und Politbüro oder Armee und Geheimdienst. Selbst zu Breschnew erfährt der Leser nichts Biographisches, obwohl gerade der Entwicklungsgang des gelernten Hütteningenieurs und seine auf Klientelwesen beruhende Personalpolitik vieles zum Wesen der nach ihm benannten Periode erklären könnten.

Selbst zu den Wandlungen im staatlichen Aufbau und in der Verwaltung beziehungsweise zur Politik der Sowjetunion gegenüber ihren Hauptfeinden USA und China und ihren sozialistischen Vasallen in Europa und Asien fand sich anscheinend kein Beiträger. Immerhin beweist Tobias Rupprecht mit seinem Beitrag über die „meshdunarodniki“, daß der menschliche Faktor in der Breschnewära nicht gar so vernachlässigbar gering war und Sachkenner aus der Wissenschaft in politischen Dingen nur geringes Mitspracherecht besaßen. Aber letzteres trifft schließlich nicht allein auf die Sowjetunion zu Breschnews Zeiten zu.

Boris Belge, Martin Deuerlein (Hrsg.): Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Breschnew-Ära. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, gebunden, 329 Seiten, 59 Euro

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