© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Störung einer Heiligsprechung
Anläßlich des 75. Jahrestages des Münchner Hitler-Attentats von Georg Elser
Lothar Fritze

Am 8. November 1939 explodierte im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengkörper, den der Schreinergeselle Georg Elser in wochenlanger, risikoreicher Nachtarbeit in einem tragenden Pfeiler des Veranstaltungssaales deponiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die jährliche Versammlung der „Alten Kämpfer“ anläßlich des gescheiterten Hitler-Putsches von 1923 bereits beendet. Hitler, dem der Anschlag primär galt, hatte den Raum 13 Minuten zuvor verlassen.

Die Bombe war zwar pünktlich explodiert, nur war das Zielobjekt nicht mehr am Tatort. Statt Hitler starben acht Menschen, deren Tötung nicht beabsichtigt war; 63 wurden verletzt, davon 16 schwer. Unter den Getöteten befand sich die 29jährige Kellnerin Maria Henle. Mindestens eine Person, die Angestellte Maria Strobl, erlitt einen Dauerschaden, der zu einer lebenslangen Beeinträchtigung führte. Beide Frauen haben in jedem vernünftigen Sinne als unschuldig zu gelten.

Aufstieg in die Ehrengalerie des deutschen Widerstands

Elser ist heute in die Ehrengalerie des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus aufgestiegen. Tat und Person werden geschichtspolitisch ver-einnahmt und erfreuen sich einer kritiklosen Würdigung. Buchtitel wie „Georg Elser – Ein Attentäter als Vorbild“ signalisieren die Stoßrichtung der volkspädagogischen Bemühungen: Elser soll als einer der größten Deutschen und als ein Vorbild, insbesondere für die Jugend, herausgestellt werden. Ihm, dem „kleinen Mann aus dem Volke“, nachzueifern gilt der politischen Klasse als ein angemessenes Lernergebnis aus der nationalsozialistischen Katastrophe.

Nun besteht allerdings folgender Zusammenhang: Eine konkrete Handlung als vorbildlich herauszustellen heißt, die Regel, der die Handlung gefolgt ist, als zustimmungsfähig und ein ihr gemäßes Handeln als moralisch akzeptabel darzustellen. Welches Lernergebnis wird uns also in Gestalt der Tat von Elser präsentiert?

Zunächst wird zu fragen sein, ob man überhaupt einen Tyrannenmord, ob man einen Tyrannenmord unter Inkaufnahme der Tötung Unschuldiger und ob man eine Tötung Hitlers für legitim hält. Auch wenn man diese Fragen bejaht, bleibt des weiteren zu erörtern, ob die Art und Weise der Attentatsdurchführung, einschließlich ihrer Methode, als akzeptabel und damit als vorbildhaft gelten kann. Und um darauf eine Antwort zu finden, hat sich jeder selbst zu fragen, ob er die Handlungsweise Elsers akzeptieren kann. Dazu muß er sich vorstellen, daß er einer derer sein könnte, die nicht zu den Profiteuren, sondern zu den unschuldigen Opfern einer Tat dieser Art gehören.

Was waren Elsers Motive? Zum einen, so wissen wir aus Elsers Einlassungen während des Gestapo-Verhörs, habe er einen von ihm im Herbst 1938 unter der Führung Hitlers als „unvermeidlich“ eingeschätzten Krieg vermeiden wollen. Zum anderen berief er sich auf ein Sinken der Löhne und auf Freiheitsbeschneidungen insbesondere beim Arbeitsplatzwechsel sowie der Religionsausübung – eine Motivation, die seinen Biographen feststellen ließ, Elser habe seine politischen Auffassungen als Kämpfer für Arbeiterinteressen „empirisch aus dem eigenen Geldbeutel entwickelt“. Er habe, so heißt es im Vernehmungsprotokoll, Betrachtungen angestellt, „wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte“. Dabei nahm er allerdings nicht an, daß das nationalsozialistische Regime durch seinen Anschlag zu beseitigen sein würde.

Um Hitler oder, wie sich Elser im Verhör einließ, „die Führung“ zu töten, hatte der „Rotfrontkämpfer“ das Attentat als einen Sprengstoffanschlag in einem vollbesetzten Saal geplant. Dafür, daß er andere, vergleichsweise weniger einschneidende Attentatsmethoden erwogen hat, gibt es keinerlei Hinweise. Daß mit der gewählten Attentatsmethode nicht zielgenau bestimmte Personen und nur diese Personen getötet werden können, war dem Attentäter von vornherein bewußt. Er rechnete damit, daß die Saaldecke einstürzen könnte und hatte die Säule deshalb gewählt, weil, wie es im Vernehmungsprotokoll heißt, „die bei einer Explosion umherfliegenden Stücke die Leute am und um das Rednerpult treffen mußten“, wobei er freilich nicht wußte, welche Leute, vielleicht außer der „Führung“, dort sitzen würden. Damit war aber klar, daß mit höchster Wahrscheinlichkeit auch Personen zu Schaden kommen würden, die zu treffen Elser nicht beabsichtigte. Ihre Verletzung, ihren Tod hat er gleichwohl vorsätzlich verursacht und billigend in Kauf genommen.

Tatsächlich hatte die explodierende Sprengladung Teile der Decke und der Galerie sowie einen sich darüber befindlichen Raum samt Dachgeschoß herabstürzen lassen, Türen aus den Angeln gerissen und einen Zustand allgemeiner Verwüstung geschaffen. Daß auch Hitler getötet worden wäre, wird zwar von den Bewunderern der Tat für gewiß erklärt, läßt sich aber, und zwar schon angesichts der gewaltigen Druckwelle, die Menschen weggeschleudert haben soll, nicht mit Bestimmtheit sagen. Elsers Methode war zwar „wirkungsvoll“ – durfte sie aber als ein geeignetes Mittel betrachtet werden, ganz bestimmte Personen zu töten?

Das Risiko mußten unbeteiligte Dritte tragen

Nun ist es möglich, daß Elser wußte, daß während der Rede Hitlers üblicherweise nicht serviert wurde. Daraus konnte er aber nicht schlußfolgern, daß zum Zeitpunkt der Explosion nur hohe Nationalsozialisten im Saal sein würden, was tatsächlich auch nicht der Fall war. Die Münchner Öffentlichkeit war durch Plakate informiert, daß auch „Die Hinterbliebenen der 16 Gefallenen“ und „Gäste des Führers“ zu den Teilnehmern der Veranstaltung gehören würden.

Zudem mußte der Attentäter mit einem viel größeren menschlichen Scha-den gerechnet haben. Zum Zeitpunkt der Explosion befanden sich noch 180 bis 200 Personen in dem bereits weitgehend geleerten Raum. Die Zahl der während der Rede Anwesenden wird hingegen auf 2.000 geschätzt (andere Schätzungen gehen von 3.000 Menschen aus). Im Falle eines geglückten Anschlags, so kann man leicht hochrechnen, wäre mit einer hohen zweistelligen, vielleicht einer dreistellen Zahl von Getöteten zu rechnen gewesen – von Verletzten und Schwerverletzten abgesehen.

Elsers Bombe hatte das Zeug, Hunderte von Menschen in die Luft zu sprengen, Leiber zu zerreißen, Köpfe zu zerquetschen, Gliedmaßen abzureißen, lebenslang Schmerzen und Behinderungen zu verursachen – um eine einzelne Person zu töten, deren Tötung aber keineswegs sicher war. Elsers Bombe, detoniert in einem übervollen Saal, hätte ein schauderhaftes Inferno angerichtet – ein Blutbad, wie es seinesgleichen, ins Werk gesetzt durch einen einzelnen, in der Weltgeschichte sucht. Sicherlich: Der Anschlag war eine couragierte Tat und auf das richtige Ziel gerichtet. Doch soll Deutschland wirklich, wie es Rolf Hochhuth fordert, mit diesem Attentäter „prahlen“?

Die Sprengladung hatte Elser mit einem Zeitzünder zur Detonation gebracht, den er am Tag zuvor zum letztenmal kontrolliert hatte. Der Versuch, sich danach über die grüne Grenze in die Schweiz abzusetzen, scheiterte bekanntlich. Jedenfalls hatte Elser, indem er sich nicht wenigstens in der Nähe des Anschlagsortes aufhielt, sich von vornherein jeder Möglichkeit begeben, in den Geschehensablauf für den Fall, daß das Attentat sein Ziel verfehlen würde, noch korrigierend eingreifen zu können. Ein solches Eingreifen, dessen Möglichkeit nicht von vornherein auszuschließen war, wäre freilich mit persönlichen Risiken für den Attentäter verbunden gewesen. So aber mußten das Risiko unbeteiligte Dritte tragen.

An eine mögliche Änderung der Veranstaltungsregie hatte Elser nicht gedacht. Wohl deshalb war ihm, der ohnehin an politischen Tagesereignissen nur wenig Interesse zeigte, die Ankündigung der Gauleitung vom 6. November entgangen, daß die Traditionsfeier mit einem veränderten Programm stattfinden und in Vertretung von Hitler Rudolf Heß sprechen werde. Nachdem am 7. November die Rede von Heß auf den 9. November verschoben worden war, wurde erst am 8. November – Hitler hatte sich kurzfristig zur Teilnahme entschlossen – der ursprüngliche Termin bekanntgegeben. Der Attentäter aber verließ sich darauf, daß die Veranstaltung auch im Krieg dem bis dahin bekannten Muster folgen würde.

Unkritische Elser-Verehrung ist nicht angebracht

Seit Jahren arbeiten Interessenten an einer „Heiligsprechung“ des Attentäters. Manche fordern gar ein „Bekenntnis zu Elser“; das heißt, wir alle sollen uns an den Maßstäben messen, die durch sein Handeln exemplifiziert wurden. Man führe sich jedoch vor Augen, zu welchen Handlungsweisen uns dieses Vorbild ermuntert. Jeder einzelne, der nach eigenem Gutdünken eine relevant ähnliche Gefahr wie Elser 1938/39, vielleicht auch nur eine vermeidbare Verschlechterung der Lage der Arbeiter, diagnostiziert, wäre danach selbst ohne genauere Prüfung der Tauglichkeit und Erforderlichkeit des Mittels berechtigt, die – seiner Auffassung nach – einer Problemlösung im Wege stehenden Personen gewaltsam zu beseitigen und dabei eine erhebliche Zahl von Unbeteiligten und Unschuldigen zu opfern.

Dies ist die Botschaft, die alle unkritischen Elser-Verehrer – allen voran die Gedenkstätte Deutscher Widerstand – in die Welt senden. Mit der rundum positiven Herausstellung eines unzulänglich durchdachten und schlecht ausgeführten Anschlags hat man einen fatalen Irrweg eingeschlagen.

 

Prof. Dr. Lothar Fritze lehrt an der TU Chemnitz. Er ist Autor des Buches „Legitimer Widerstand? Der Fall Elser“ (Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2009, broschiert, 206 Seiten, 24 Euro).

Foto: Münchner Bürgerbräukeller nach dem gescheiterten Hitler-Attentat: Hunderte Tote in Kauf genommen

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