© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Mirko im Taumel der Knabenjahre
Kinderland und Tunnelbau: Zwei Bildergeschichten über die deutsche Teilung und Wiedervereinigung
Sebastian Hennig

Selten kommt eine Darstellung über die letzten Tage der DDR so präzise und zugleich so stimmungsvoll daher wie die Bildergeschichte „Kinderland“. Die Erzählung um den Knaben Mirko Watzke entpuppt sich als autobiographische Darstellung des Zeichners Markus Witzel. Bereits das Namensspiel läßt es ahnen. Das Autorenfoto aus Kindertagen auf der Klappe des Buchs tilgt jeden weiteren Zweifel an der Identität des Autors mit seiner Kunstfigur.

Da der Zeichner damals erst dreizehn Jahre alt war, hat er zwar bereits eine DDR-Biographie, aber noch keinen Grund, diese zu verteidigen. Die Pubertät überdröhnt den Mauerfall. Gezeigt wird das normale Leben aus der Perspektive des verwirrenden Taumels der Knabenjahre. Die flotten großen Jungs seiner Schule stülpen ihre Weltfremdheit aus in die Attitüde weltmännischer Zwerge, bei „Mürgo“ bleibt sie eingezogen, als ein scheues Entsetzen vor dem totalen Anspruch, der anhaltenden Überforderung durch seine Umwelt.

Mirkos Temperament ist ihm völlig unabhängig vom politischen System gegeben. Dessen Kulisse läßt aber die Handlung konkret werden. Als die Eltern Watzke am Ende von ihrem ersten Ausflug über die Grenze zurückkehren, fragt der Vater: „Riecht ihr das? Wir sind wieder im Osten.“ Und dieser Geruch weht über die knapp 300 Seiten von „Kinderland“. Dabei entsteht weder ein Ostalgie-Zirkus noch ein Dissidenten-Drama. Indirekt tritt der ganze beklemmende Anhauch jener Endzeitstimmung hervor. Der gemütliche Opportunismus der Pioniere und die ungemütliche Kirchenzucht der Alten, das verrottende Provisorium der öffentlichen Einrichtungen und die Natürlichkeit im persönlichen Umgang. Diese Aspekte bleiben alle ineinander verwoben und werden nicht als Gegensätze ausgespielt.

Einfache sinnliche Darstellungen jener Jahre, die nicht soziologisch überreflektiert sind, haben meist ein Problem mit der Dosierung. Entweder wird es zu wohlig oder zu trist. Dieses Buch ist farbig, wie das Leben damals durchaus war. Oftmals wurde es einem sogar zu bunt mit den Halstüchern, Wimpeln und blauen Blusen. Daß dazwischen noch höhnisch die Konsumverheißungen der westlichen Zivilisation schrillten, machte es nicht leichter. So verpaßt ein Knabe die Tumulte des Schulhofs, während er über sein elektronisches Spielzeug gekrümmt bleibt und seine Bewunderer ihre Aufmerksamkeit längst dem echten Kampf zugewendet haben.

Lebendiger Vortrag, ungelenkiger Strich

Was „Kinderland“ trägt, sind die eigene Anschauung des Nebensächlichen, die Erinnerung an selbst Erlebtes und vor allem der lebendige Duktus des Vortrags. Die Ungelenkigkeit des Strichs ist geschickt gehandhabt. Kleine hingeworfene Akzente geben starkes Kolorit. Wir empfinden intensiv die Hautunreinheiten des Rüpels „Bolzen“, die behaarten Unterarme des hemdsärmeligen Lehrers Öhlert und die artistischen Verrenkungen der Kinder an der Tischtennisplatte. Die kleine Angelika Werkel mit weißer Bluse, blauem Faltenrock und rotem Pionierhalstuch ist eine immer noch liebenswürdige Veralberung der Kanzlerin. Als die Jungen bei der Altstoffsammlung unbedacht in die abgewohnten Zimmer ihrer ältlichen Pionierleiterin Frau Kranz geraten, versteckt diese rasch die Westjournale auf ihrem Tisch.

Die Maueröffnung macht Mirko einen Strich durch die Rechnung. Das historische Ereignis bedeutet für den Jungen eine Niederlage. An jenem Novembertag wollte er mit den Freunden die Schulhof-Peiniger mit einem Tischtennisturnier niederzwingen. Statt dessen kann er in West-Berlin die Kelle seiner Träume kaufen. Aber gespielt wird nicht mehr damit. Es ist die übliche Tragödie der Entsagung, des Erwachsenwerdens.

Das Buch ist zu einem richtigen Renner geworden. Seinem Zeichner hat es den diesjährigen Max-und-Moritz-Preis des Internationalen Comic-Salons Erlangen eingebracht als bester deutschsprachiger Comic.

Comic-Geschichte über Fluchttunnel

Eine andere Comic-Neuerscheinung blickt zurück in die Jahre unmittelbar nach dem Mauerbau. Die Graphic-Novel „Fluchttunnel nach West-Berlin“ von Olivier Jouvray und Nicolaus Brachet entfärbt das Geschehen zu einer dunklen Vergangenheit. Wie ein grauer Mehltau überzieht Trostlosigkeit die Bilder und läßt das Buch zu einer unfreiwilligen Parodie des Genres geraten.

Der Fluß der Handlung geht so langweilig gleichmäßig voran wie ein Schulungsvortrag zur politischen Bildung. Weder das Künstler-Milieu noch die Liebesgeschichte kann der schematischen Bilderzählung auf die Sprünge helfen. Gleichmäßige Sprechblasen mit fast immer der gleichen Textmenge blubbern über dem Raster der Bildfolgen. Nur ganz selten lockert ein Detail oder ein überraschender Perspektivwechsel den visuell zähen Fortgang auf.

Als die junge Frau aus Ost-Berlin den Freund ihres Bruders an den Übergang begleitet, will sie dieser nicht allein zurückgehen lassen. Sie antwortet: „Ach, hier bei uns lauern im Dunkeln keine Gefahren.“ Die Gestalten wirken wie Gliederpuppen. Ohne Eigenleben werden sie nur von dem Wissen um die geschichtlichen Tatsachen in Bewegung gehalten. Und allein dadurch wird es am Ende dann doch noch spannend.

Die Geschichte liest sich weg, ohne daß ein Geschichtsbild haften bliebe. Dieses Deutschland der sechziger Jahre ist so abseitig und unwirklich wie der Wüstenplanet im Science-fiction-Film.

Mawil: Kinderland. Reprodukt, Berlin 2014, broschiert, 296 Seiten, 29 Euro

Olivier Jouvray, Nicolaus Brachet: Fluchttunnel nach West-Berlin. Avant-Verlag, Berlin 2014, gebunden, 56 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Bilderfolgen aus dem Buch „Kinderland“: Kleine hingeworfene Akzente geben starkes Kolorit

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